Eigentlich rauscht, faucht, tost und plätschert es durch die Wiesen und Berge. Der heiße Sommer 2022 mit seinen langanhaltenden Trockenperioden hat viele mächtige Flüsse gezähmt und zu Rinnsalen werden lassen. In ganz Europa lagen Fließgewässer streckenweise trocken, Teile der Schifffahrt wurden eingeschränkt. Vergleichswerte aus den vergangenen zwanzig Jahren zeigen, wie sehr sich die Wasserstände deutscher und europäischer Flüsse verändert haben – mit weitreichenden Folgen.
Der Rhein ist der wasserreichste und längste Fluss in Deutschland. Im Sommer 2022 erlebte der Rhein neue Tiefstände. Streckenweise war das Flussbett bis auf die Fahrrinne ausgetrocknet. Schiffe konnten nur noch bedingt fahren. Besonders heikel war der Wasserstand an der Engstelle Kaub bei Koblenz – ein Nadelöhr für die Binnenschifffahrt. Der Fluss ist dort besonders flach. Bis zu einem Pegelstand von 30 bis 35 Zentimetern könnten manche Schiffe noch den Rhein befahren, heißt es bei der Bundesanstalt für Gewässerkunde. Allerdings nicht mehr mit voller Ladung.
An anderen Stellen des Rheins, etwa bei Emmerich, sank der Pegel im August sogar auf –0,2 Zentimeter. Der niedrigste Wert bisher waren sieben Zentimeter im Oktober 2018. Dabei bedeutet Null jedoch nicht, dass kein Wasser im Fluss ist. Der Pegelnullpunkt (PNP) wird durch Betreiber des Pegels festgelegt und liegt meist unter dem niedrigsten, über eine lange Zeit gemessenen Wasserstand. Der Wasserstand ist der Abstand zwischen dem Wasserspiegel und dem Pegelnullpunkt und wird in Zentimeter gemessen.
Allein in den vergangenen 30 Tagen sanken 32 Pegel auf ein historisches Rekordtief, unter anderem mehrere Stellen an der Donau und am Rhein, sowie der Main und die Elbe. Insgesamt gibt es in Deutschland 644 Messstellen.
Dass sich Pegelstände kontinuierlich verändern, ist normal. Wie viel Wasser durch einen Fluss fließt, hängt von den Niederschlägen ab, oder wie viel Schmelzwasser aus den Bergen in die Täler läuft. Das European Flood Awareness System errechnet die Wassermengen, die in einem Tag durch einen Fluss fließen in Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Entwickelt haben das die Europäische Kommission und das European Centre for Medium-Range Weather Forecasts um Fluten vorherzusagen.
Die Daten der Sommermonate Juni, Juli und August 2022 zeigen im Vergleich mit dem Durchschnitt dieser Monate aus den Jahren 1991 bis 2021 vor allem in Zentraleuropa viel zu niedrige Durchflussmengen. Lediglich Flüsse in nördlichen Ländern wie in Norwegen führten mehr Wasser. Grund dafür sind unter anderem die hohen Temperaturen, die auch in Skandinavien die Gletscher stärker schmelzen lassen als bisher. Gleichzeitig regne es in Folge des Klimawandels mehr in Nordeuropa, sagte Klimaforscherin Diana Rechid vom Climate Service Center Germany (Gerics).
Rechids Angaben zufolge ist Niedrigwasser durchaus ein natürliches Phänomen. Das Jahr 2022 war jedoch geprägt von Klimaextremen. Laut Einschätzung der Europäischen Dürrebeobachtungsstelle erlebt Europa derzeit die schlimmste Dürre seit mindestens 500 Jahren. 47 Prozent von Europa sei von Dürre bedroht. Dem Dürremonitor Deutschlands des Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung zufolge sind derzeit ein Großteil deutscher Böden von außergewöhnlicher Dürre betroffen.
Ersten Angaben des Deutschen Wetterdienstes (DWD) zufolge regnete es im Sommer 2022 durchschnittlich 145 Liter pro Quadratmeter – damit ist es der sechsttrockenste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1881. Gleichzeitig war es viel zu heiß. Der diesjährige Sommer zählt zu den vier wärmsten der vergangenen 140 Jahre. Die hohen Temperaturen führen laut Jakob Zscheischler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung dazu, dass mehr Wasser verdunstet. Das senkt die Wasserstände noch weiter.
Aber das „hydrologische System“, wie das komplexe Geflecht aus Wasser, Gewässern und Wärme auf der Erde heißt, ist noch komplizierter. Denn durch die Klimakrise war auch schon der Winter recht schneearm, so Klimaforscherin Rechid. Das Wasser fehle nun den Flüssen, die sonst im Sommer das Schmelzwasser aus den Bergen bekommen. In den Rhein etwa fließt Schmelzwasser aus den Alpen.
Gleichzeitig war es viel zu heiß. Der diesjährige Sommer zählt zu den vier wärmsten der vergangenen mehr als 140 Jahre. Die hohen Temperaturen führen laut Jakob Zscheischler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung unter anderem dazu, dass mehr Wasser aus Flüssen und Seen sowie aus freien Landflächen verdunstet. Was wiederum zu einem niedrigen Wasserstand führt.
Viele große Fließgewässer Europas führten zu wenig Wasser. Italiens längster Fluss, der Po, misst einen Wasserstand von zwei Metern unter seinem normalen Niveau, berichtet der britische „Guardian” – so niedrig waren die Pegelstände seit 70 Jahren nicht mehr. Daraufhin ließen verschiedene Städte in Italien bereits das Trinkwasser regulieren.
Bis zum 31. August durfte es nur noch tagsüber zur Nahrungsaufnahme, zur Körperhygiene und zur Reinigung im Haushalt verwendet werden. In etlichen Gemeinden müssen die Leute schon seit Wochen Wasser sparen, Tanklaster werden vielerorts zum Auffüllen der Wasserspeicher eingesetzt. Städte wie Mailand haben großen Brunnen schon das Wasser abgedreht.
Auch die Loire, der größte Fluss Frankreichs, ließ sich zuletzt zu Fuß überqueren. In den Niederlanden entstehen durch die trockenen Böden und niedrigen Pegelstände ganz andere Probleme: Fast eine Million Häuser droht das Risiko, abzusacken, berichtet die Tagesschau. Betroffen sind dem Geo-Hydrologe Maarten Kuiper zufolge alte Häuser, die auf lehmigen oder sumpfigen Boden gebaut wurden. „Wenn Holz unter Wasser bleibt, kann nichts passieren, aber bei sinkendem Pegel stehen die Pfahlköpfe trocken. Und trockenes Holz verrottet irgendwann”, sagte er gegenüber der Tagesschau.
Auch wenn es in den letzten Tagen wieder mehr Regen gab: Entwarnung gibt es noch nicht. Der aktuelle wöchentliche Bericht der Bundesanstalt für Gewässerkunde verweist auf extreme Niedrigstände in den nordwestlich gelegenen Flussgebieten der Weser und Ems. Vor allem die Weser ist an manchen Stellen seit zwei Wochen mehrere Dezimeter unter der Niedrigwassermarke. Fähren mussten den Betrieb einstellen. Auch am Rhein und an der Donau zeigen die Pegel wieder Niedrigwasser an. Über Wochen im August konnten auf der Elbe keine Frachter mehr verkehren.
Normalerweise erreichen die Flüsse erst später im Jahr ihre niedrigsten Pegel. Es könnte also noch weniger werden.
Insgesamt umfasst das Netz der Bundeswasserstraßen in Deutschland etwa 7300 Kilometer. Aneinandergereiht entspricht das ungefähr der Luftlinie von Berlin nach Peking. Zwischen Januar und Mai 2022 wurden insgesamt 82,4 Tonnen Güter darauf transportiert, 86 Prozent davon auf dem Rhein – Deutschlands wichtigster Binnenwasserstraße. Die fallenden Pegel beeinträchtigen den Güterverkehr und verschärfen die Lage der ohnehin schon durch Ukraine-Krieg und Energiekrise beeinträchtigten Lieferketten.
Zwar werden in Deutschland nur ungefähr fünf Prozent der beförderten Gütermenge per Binnenschifffahrt transportiert, aber gerade Ladungen wie Schüttgut lassen sich schwer auf andere Wege umlegen, sagt Saskia Meuchelböck. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weltwirtschaftsinstitut in Kiel und erforschte unter anderem, welche Auswirkungen das Niedrigwasser am Rhein in 2018 auf die Wirtschaft hatte.
Im Dürrejahr 2018 nahm die Güterbeförderung nahm um 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr ab. Meuchelböck geht davon aus, dass sie dieses Jahr lediglich um 0,5 Prozent sinken werde. Viele Unternehmen seien nach 2018 besser auf mögliche Beeinträchtigungen vorbereitet, sagt sie. Zu den tatsächlichen Auswirkungen für die Monate Juni, Juli und August liegen noch keine Daten vor, wie das Statistik-Amt auf Anfrage des Tagesspiegels mitteilt.
Über das Wasser wird besonders Öl und Kohle verschifft. Das geht aus Angaben des Statistischen Bundesamts hervor.
Aktuell wird „bis an die Grenze des physikalisch Möglichen gefahren, solange die Sicherheit gewährleistet ist”, sagt Martin Staats, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB). An der Engstelle bei Koblenz bräuchte man beispielsweise eine Wassertiefe von 1,50 Meter, um voll beladen fahren zu können. Am 15. August erreichte der Wasserstand bei Kaub mit 1,42 Meter seinen tiefsten Punkt.
An vielen Orten können Schiffe daher nur noch teilbeladen werden. Oder Güter müssen auf LKWs und Züge umgeladen werden. „Aber auch auf der Schiene und auf der Straße steht nur eine begrenzte Transportkapazität zur Verfügung“, sagt Staats.
Flüsse bieten eine Vielfalt an Lebensräumen und zusammen mit ihren Auen die artenreichsten Ökosysteme Mitteleuropas. Niedrige Wasserstände führen dazu, dass die Flüsse sich erwärmen. Höhere Temperaturen führt zu einem geringeren Sauerstoffgehalt im Wasser. Fische haben dadurch Probleme an Luft zu kommen und können sterben. Kleinlebewesen wie Würmer und Muscheln können verenden – und damit den restlichen Fischen die Nahrungsgrundlage entziehen.
Größere Hitzeperioden können nicht nur trockenere Flüsse verursachen, sondern absurderweise auch extremere Niederschläge und Überschwemmungen. Wasser geht nicht einfach verloren, es wechselt nur den Aggregatzustand. Ist es heißer, verdunstet mehr Wasser und steigt in die Atmosphäre auf. Erreicht es dort eine bestimmte Dichte, fällt es in Form von Niederschlag zurück auf die Erde.
Statt längeren Regenperioden, der früher die Böden nachhaltig durchfeuchtete, kommt es gegenwärtig verstärkt zu lokal begrenztem Starkregen, sagt Meteorologe Peter Hoffmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) dem Tagesspiegel. Dieser könnte an einem Tag Mengen überschreiten, die sonst in einem ganzen Monat üblich sind. Das Wasser fließt dann größtenteils ab anstatt im Boden zu versickern. Und das verursacht schlimmstenfalls Überschwemmungen.
Diese Entwicklungen dürften sich dem Hydrologen Fred Hattermann (ebenfalls PIK) zufolge verschärfen. „Alle unsere Analysen zeigen, dass es mit weiter steigender Globaltemperatur sogar noch schlimmer wird“, sagte er dem Tagesspiegel.