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Von Reis bis Schokolade

Von diesen Ländern hängt die deutsche Lebensmittelversorgung ab

Die Invasion der Ukraine hat gezeigt, wie verflochten die globale Versorgungskette ist. Wegen fehlendem Weizen hungern ganze Landstriche. Wo kommt Deutschlands Essen her?
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Russlands Angriffskrieg führt nicht nur zu Kriegsopfern in der Ukraine. Er führt auch dazu, dass Menschen auf der ganzen Welt an Hunger leiden. Sonnenblumenöl, das häufigste Öl, das zum Beispiel von einem Viertel der Inder verwendet wird, ist zwischen Februar 2022 und Mai 2022 um 16,7 Prozent teurer geworden. Indien ist der größte Speiseölimporteur der Welt und importiert 74 Prozent seines Sonnenblumenöls aus der Ukraine. Kaum war der Krieg ausgebrochen, versiegten die Ölexporte und die Handelspreise stiegen in die Höhe. Indien war gezwungen, mehr Sonnenblumenöl aus Russland zu kaufen.

Lebensmittelexporte aus der Ukraine wurden entweder verboten oder durch die gewaltsamen Blockaden der Häfen am Schwarzen Meer unterbrochen. Dies traf einige Länder wie Moldawien und Libyen besonders hart, da ihre Lebensmittelversorgung in erheblichem Maße von der Ukraine oder Russland abhängt. Der Krieg hat auf drastische Weise vor Augen geführt, wie sehr unser Lebensmittelkonsum weltweit voneinander abhängig geworden ist. Und das ist nicht nur in Indien oder Moldawien der Fall, sondern auch in Deutschland und dem restlichen Europa. Jetzt, wo sich ein weiterer Konflikt in Taiwan abzeichnet, stellt sich die Frage: Von welchen Ländern ist Deutschland am meisten abhängig?

Aufgrund ihres Klimas oder ihrer Präferenzen bauen verschiedene Länder unterschiedliche Nahrungsmittel an und handeln damit auf internationaler Ebene. Während Südasien beispielsweise seinen Reis in die ganze Welt exportiert, ist es für Weizen auf den Weltmarkt angewiesen. Mit zunehmender Globalisierung werden diese gegenseitigen Abhängigkeiten stets komplexer. Länder tauschen immer mehr Produkte aus – ohne ein Ende in Sicht: Manche Länder sind bei bestimmten Rohstoffen vermehrt auf einige wenige Länder angewiesen.

80 Prozent der Lebensmittelimporte kommen aus der EU

Im Jahr 2020 hat Deutschland etwa 353 verschiedene Lebensmittel aus 175 Ländern importiert und 95 Milliarden US-Dollar für Importe ausgegeben – durchschnittlich 91 Milliarden US-Dollar pro Jahr zwischen 2011 und 2020. Am meisten wurde für nicht näher definiertes Rohmaterial (4,9 Mrd. US-Dollar) (wie Knollen, Pflanzen, Schalen, tierische Derivate usw.) ausgegeben, gefolgt von Käse aus Kuhmilch (4,5 Mrd. US-Dollar) und verarbeiteten Lebensmitteln (3,6 Mrd. US-Dollar) (pflanzliche und tierische Erzeugnisse, wie Suppen und Brühen, Ketchup und andere Soßen, Gewürzmischungen und Würzmittel, Essig und Ersatzstoffe usw.). Es überrascht nicht, dass an zweiter Stelle Wein (2,9 Milliarden US-Dollar) steht, der zu 75 Prozent aus Italien, Spanien und Frankreich stammt. Kaffee, der zu 66,3 Prozent aus Brasilien, Vietnam und Honduras kommt, belegt den dritten Platz an importierten Lebensmitteln.

Aus diesen Ländern importiert Deutschland am meisten Lebensmittel
Top Ten nach Einfuhrwert im Jahr 2020, in US-Dollar

Insgesamt kommen fast 80 Prozent aller deutschen Lebensmittelimporte aus anderen EU-Ländern. Am meisten stammt aus den Niederlanden mit 23 Milliarden USD. Die nächstgrößeren Handelspartner sind Italien, Polen, Frankreich und Spanien. Aber auch die USA und Brasilien spielen eine wichtige Rolle bei der Lebensmittelversorgung.

Deutschlands Abhängigkeit von Importen aus der Ukraine ist begrenzt: Deutschland hat einen Netto-Handelsüberschuss mit der Ukraine und ist nur bei zwei Produkten – Mais und Raps – geringfügig auf sie angewiesen: Im Jahr 2020 importierte Deutschland Mais im Wert von 74,5 Millionen US-Dollar (10,3 Prozent seiner Importmenge) und Raps im Wert von 174,7 Millionen US-Dollar (6,7 Prozent seiner Importmenge).

Von Russland ist Deutschland eher indirekt abhängig. Zwar machten die russischen Importe wertmäßig nur 0,2 Prozent aller deutschen Importe über das Jahrzehnt (2011 – 2020) aus. Allerdings bezog Deutschland vor dem Krieg einen wachsenden Anteil seines Sonnenblumen-Schrots (ein Futter- und Düngemittel) aus Russland: Im Jahr 2020 waren es 48 Millionen US-Dollar (45,4 Prozent der Importmenge). Die Verknappung hat dazu geführt, dass die Futtermittelpreise auf nationaler Ebene in die Höhe geschossen sind. Die deutsche Regierung hat jedoch bereits nach Auswegen gesucht. Weitere nennenswerte Abhängigkeiten von Russland bestehen bei destillierten alkoholischen Getränken, Tabak, Senfkörnern und bestimmten Ölen. Einige Abhängigkeiten, die früher relevant waren, sind im Laufe der Jahre zurückgegangen, wie Leinsamen, Rapsöl und Mais (von 34 Millionen US-Dollar im Jahr 2014 auf drei Millionen US-Dollar im Jahr 2020).

Politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten

Nur bedingt von der Ukraine und Russland abhängig zu sein, hat sich während des Krieges als nützlich erwiesen. Doch warum ist das so? Manchmal sind die Gründe rein wirtschaftlich – wie wahrscheinlich im Fall Polens, das für die deutschen Zigarettenimporte eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Der Wert polnischer Einfuhren stieg von 143 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 auf 1,2 Milliarden US-Dollar im Jahr 2020. Polen trug zwar schon immer bedeutend zu den deutschen Zigarettenimporten bei. Dieser Anteil hat sich jedoch deutlich erhöht: Im Jahr 2020 kamen 75 Prozent der Zigaretten (nach Menge) aus dem Nachbarland. Infolgedessen sanken die Zigaretteneinfuhren aus Rumänien und dem Vereinigten Königreich. Im Jahr 2021 bot Polen mit 3,94 Euro nach Bulgarien (3,07 Euro) den zweitniedrigsten Preis für eine Zigarettenschachtel in der Europäischen Union.

Mitunter können die Abhängigkeiten bei Importen auch politisch bedingt sein. So hat Deutschland im Laufe des Jahrzehnts seine Einfuhren von Tomatenmark aus China konsequent von 21 Millionen US-Dollar im Jahr 2011 auf 1,5 Millionen US-Dollar im Jahr 2020 zurückgefahren. Für das Defizit kommen stattdessen andere europäische Länder auf. Dies geschah vor dem Hintergrund der Vorwürfe in den Jahren 2019/2020, dass China Arbeitskräfte von verfolgten Minderheiten wie den Uiguren in Xinjiang zur Herstellung von Tomatenprodukten zwingen soll. Die deutschen Einfuhren von Tomatenmark sanken von 4,7 Millionen US-Dollar im Jahr 2019 auf 1,5 Millionen US-Dollar im Jahr 2020, während die Einfuhren aus den Niederlanden, Österreich, der Ukraine und Ungarn jeweils um mehr als 100 Prozent stiegen.

Einseitige Sensibilität bei der Partnerwahl

Diese „politische Sensibilität“ scheint jedoch recht einseitig zu sein. So ist Italien beispielsweise nach wie vor der größte Exporteur von Tomatenmark nach Deutschland. Allerdings wird Italien vorgeworfen, insbesondere den südlichen Regionen, unter Zwangsarbeit Tomaten zu ernten, welche anschließend als Tomatenmark auf nationalen und internationalen Märkten verkauft werden. Das internationale Lebensmittel- und Getränkeunternehmen Princes und die NGO Oxfam Italien haben sich kürzlich zusammengetan, um die Rechte von Tomatenarbeitern zu schützen. Inwieweit diese Bestrebungen auch die deutsche Abhängigkeit von Tomaten in Italien beeinflussen, bleibt abzuwarten.

Auch hat Deutschland im Laufe der Jahre bei den Importen auf veränderte Agrarvorschriften reagiert. So entfielen im Jahr 2011 zehn Prozent der deutschen Einfuhren von geschältem Reis (Braunreis) auf Indien. Sie erreichten 2012 mit einem Anteil von 19 Prozent der Importe ihren Höhepunkt. Bis 2020 sank der indische Beitrag jedoch auf nur noch vier Prozent. Diese Veränderung ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die strengen EU-Reisimportvorschriften, die zwischen 2017 und 2018 umgesetzt wurden und die die maximal zulässigen Rückstände des Fungizids Tricyclazol in Basmati-Reis stärker begrenzten. Zwischen 2016 und 2017 halbierten sich die Einfuhren von geschältem Reis aus Indien und gingen seitdem weiter zurück. Stattdessen wurden diese Lieferungen über den wichtigsten Handelspartner Deutschlands, die Niederlande, abgewickelt.

Nach neuer EU-Norm: Deutschland verringert Reis-Direktimporte
Anteil des jeweiligen Landes am Importvolumen Deutschlands von geschälten Reis, in Prozent

Die besondere Beziehung zwischen Deutschland und den Niederlanden

Nichts kommt jedoch dem Umfang des bilateralen Handels zwischen den Niederlanden und Deutschland nahe. Die Einfuhren aus den Niederlanden machten im Jahr 2020 25 Prozent des Werts der deutschen Einfuhren von 340 Produkten aus. Im Durchschnitt bedeutet dies 22 Milliarden US-Dollar jährlich über das Jahrzehnt. Die Niederlande sind ein einzigartiger Fall, da sie nicht nur ein widerstandsfähiger Agrarproduzent, sondern auch ein wichtiges Re-Exportzentrum für Europa sind. Als Re-Exporteur importieren sie in ihren Häfen Produkte aus der ganzen Welt, verarbeiten sie in begrenztem Umfang und exportieren sie wieder in europäische Länder. Zu den Produkten, die in großem Umfang aus den Niederlanden nach Deutschland re-exportiert werden, gehören Schokolade (und Kakaobohnen, Kakaobutter, Kakaopaste), Orangen, Bananen, Avocados, Mangos und viele andere Früchte und Säfte. Dadurch ist Deutschland auf einzigartige Weise von den Niederlanden abhängig, da die Niederlande nicht nur ihre eigenen Produkte liefern, sondern auch Deutschlands Tor zur Welt sind.

Der Weg von geschältem Reis veranschaulicht diese Dynamik. Nachdem Deutschland seinen Reis aus regulatorischen Gründen nicht mehr direkt aus Indien beziehen konnte, waren die Niederlande ein möglicher Durchgangsort. Sechs Monate nach Inkrafttreten der EU-Reisverordnungen Anfang 2017 errichtete das indische Unternehmen „LT Foods“ in Rotterdam sein erstes „Reisverarbeitungswerk“, das mit einer Kapazität von 60.000 Tonnen eine breite Palette von Reissorten wie Basmati, Jasmin, Thai und amerikanischen Reis herstellt. Der Standort Niederlande galt als entscheidend, da er den Zugang zu ganz Europa und dem Vereinigten Königreich erleichtert. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Rotterdam Partners, der Hafenbehörde von Rotterdam und der niederländischen Agentur für Auslandsinvestitionen realisiert. Anfang 2020 florierte das Unternehmen und investierte in neue Reisverpackungslinien an einem Standort in Maasvlakte (einem Hafenkomplex), wodurch es ideal für den Import von Reis aus Indien aufgestellt war, der in Europa vertrieben werden sollte.

Die Versorgung mit Schokolade hängt von zwei Ländern ab

Auch anhand der Einfuhren von Kakaobohnen zeigen sich die Niederlande als Deutschlands Tor zur Welt. Im Jahr 2020 importierte Deutschland 30,7 Prozent seiner Kakaobohnen aus den Niederlanden und 31,3 Prozent direkt aus Côte d’Ivoire. Die Niederlande selbst importierten jedoch 48 Prozent ihrer Bohnen aus Côte d’Ivoire. Dies bedeutet, dass Deutschland bei diesen Bohnen zu mindestens 31,3 Prozent und höchstens 62 Prozent von der Elfenbeinküste abhängig ist. Bezieht man Belgien mit ein, das 56 Prozent seiner Bohnen aus Côte d’Ivoire importiert, steigt die Abhängigkeit auf 84 Prozent: Deutschland importierte im Jahr 2020 22,4 Prozent seiner Bohnen aus Belgien. Sollte der Handel in den Niederlanden aus irgendeinem Grund unterbrochen werden, könnten die Lieferungen über andere Häfen wie Belgien nach Deutschland gelangen. Aber falls Côte d’Ivoire wegfällt, wird das auch die Verfügbarkeit von Schokolade in Deutschland betreffen.

Daher ist es notwendig, Europa mit seinen vielen Importwegen als eine kollektive Einheit zu betrachten. Nur so lassen sich die Regionen in der Welt aufzeigen, von denen Deutschland letztendlich abhängig ist.

Aus diesen Ländern importiert Europa Lebensmittel
Gesamtimporte nach Herkunftsland im Jahr 2020

Im Jahr 2020 importierten die 40 europäischen Länder Lebensmittel im Wert von 141 Milliarden USD aus 153 Ländern außerhalb ihrer Region. Allein die Niederlande importierten 20 Prozent dieses Wertes. Etwa 50 Prozent dieser europäischen Lebensmittelimporte kamen aus nur neun Ländern: Brasilien, die USA, Türkei, China, Indonesien, Argentinien, Côte d’Ivoire, Indien und Kanada.

Früchte, Futter und Genussmittel: Was die EU importiert
Lebensmittelimporte der EU im Jahr 2020, nach Kategorie in Prozent des Gesamt-Importwerts. Nur Einträge mit einem Wert von mindestens 0,5 Prozent werden gezeigt, alle anderen sind als „Sonstige“ zusammengefasst

Während die meisten deutschen Lebensmittelimporte in den letzten zehn Jahren auf die Eurozone beschränkt waren, zeigen diese Verbindungen die globale Verflechtung der Versorgungsketten. Daher ist es für die Ernährungssicherheit Deutschlands essentiell, die Stabilität Europas und einiger wichtiger Handelspartner außerhalb der EU zu gewährleisten. Eine Krise in den entsprechenden Regionen könnte ein gewisses Risiko darstellen, ist aber nicht unbedingt eine direkte Gefährdung. Wirklich bedrohlich sind vielmehr Versorgungsengpässe bei Produkten, die der europäischen Landwirtschaft als Ausgangsbasis für die eigene Herstellung dienen – wie Energie und Viehfutter. Der Krieg in der Ukraine hat auch dieses Thema in den Vordergrund gerückt. Vielleicht ist es Zeit für Deutschland und Europa, zu handeln. So können sie die Reibungsstellen beseitigen, bevor sie zu einem größeren Problem werden.

Das Team

Vihang Jumle
Text und Recherche
Tanja Kunesch
Grafiken und Übersetzung
Lennart Tröbs
Design und Grafiken
Veröffentlicht am 5. September 2022.