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Blutspur nach Emsdetten

Der tödliche Erfolg eines deutschen Unternehmens

SIG Sauer ist einer der mächtigsten Waffenhersteller der USA. Was kaum jemand weiß: Die Firma gehört zwei Unternehmern aus dem Münsterland.
SIG Sauer ist einer der mächtigsten Waffenhersteller der USA. Was kaum jemand weiß: Die Firma gehört zwei Unternehmern aus dem Münsterland.

Auf den ersten Blick ist Emsdetten im Münsterland ein ganz normaler Ort in Deutschland. Viel Backstein, Partnerstädte in den Niederlanden und Polen, drumherum plattes Land mit grünen Weiden und Kühen. Seit einigen Jahren gibt es einen grünen Bürgermeister. Der Komiker Atze Schröder kommt hierher.

Doch aus der Stadt mit rund 35.000 Einwohnern führt ein direkter Weg zu den schlimmsten Attentaten der USA, zu hunderten Toten und Verletzten. Oder genauer: Von den schlimmsten Attentaten der USA führt eine direkte Spur nach Emsdetten.

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12. Juni 2016. Gegen zwei Uhr morgens betritt ein 29-Jähriger den Schwulenclub „Pulse“ in Orlando, Florida. Vor 320 Gästen mit mehrheitlich lateinamerikanischem Hintergrund tritt gerade die Drag Queen Kenya Michaels auf. Der Täter, der sich der radikalislamischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ zurechnet, fängt sofort an zu schießen. Drei Stunden später wird er 49 Menschen getötet und weitere 53 verletzt haben. Unter seinen Waffen: ein halbautomatisches Sturmgewehr vom Typ MCX. Marke: SIG Sauer.

49 Menschen starben in Orlando in Florida. Foto: Reuters
Es war eines der tödlichsten Mass Shootings. Foto: REUTERS/Steve Nesius

1. Oktober 2017. Um 22.05 Uhr eröffnet ein 64-Jähriger aus einer Hotelsuite im 32. Stock des Mandalay Bay am Strip von Las Vegas das Feuer. Sein Ziel: das in unmittelbarer Nähe stattfindende Country-Festival „Route 91 Harvest“. Innerhalb von zehn Minuten erschießt er mit 24 halbautomatischen Pistolen 58 Menschen. 546 werden verwundet, 454 weitere bei einer entstehenden Massenpanik verletzt. Unter den Waffen: eine halbautomatische 716-AR-15-Maschinenpistole mit 25-Schuss-Magazin. Marke: SIG Sauer.

17. Juli 2022. Um 17.56 Uhr beginnt ein 20-Jähriger aus Greenwood, Indiana, eine Bluttat im Food Court eines Einkaufszentrums in seiner Heimatstadt. Binnen fünf Minuten tötet er drei Erwachsene und verletzt ein 12-jähriges Mädchen, ehe er selbst erschossen wird. Seine Waffe: ein halbautomatisches M400-Maschinengewehr mit AR-15-Lauf. Marke: SIG Sauer.

Die Spur dieser Attentate führt zur immer gleichen Adresse: Münsterstraße 5, 48282 Emsdetten, Nordrhein-Westfalen.

SIG Sauer gehört zu den meistverkauften Waffen in den USA

In einer unscheinbaren Stadtvilla aus dunklem Backstein residiert hier eine Holding namens L&O, benannt nach ihren beiden Gründern: Michael Lüke und Thomas Ortmeier.

Die Stadtvilla in Emsdetten Foto: Tagesspiegel/Daniel Erk

Diesem Dachunternehmen gehört einer der größten Waffenhersteller der USA: die SIG Sauer Inc. Deren halbautomatische Pistolen und Gewehre zählen zu den meistverkauften Waffen auf dem US-Privatmarkt. Sie sind dort in Supermärkten und Waffengeschäften erhältlich. Mehr als eine Million Pistolen und knapp 60.000 Gewehre stellte das Unternehmen 2021 her. In vielen US-Bundesstaaten sind sie ohne jede Überprüfung des Käufers zu haben.

2019 landete die SIG Sauer P365 auf Platz eins der meistverkauften Pistolen, 2022 immerhin noch auf Platz fünf. „Sie ist die erste Wahl für alle, die eine Waffe brauchen, die leicht zu tragen und schnell zu ziehen ist“, urteilt das Branchenblog Ammoready.com.

Schon heute ist SIG Sauer der drittgrößte Pistolenproduzent der USA, mit 3,6 Millionen verkauften Waffen im Zeitraum von 2016 bis 2020.

Für die SIG Sauer Inc. und ihre Besitzer ist das ein lukratives Geschäft. Mehr als 950 Millionen Euro hat die L&O Holding im Jahr 2021 umgesetzt, mehr als die Hälfte davon mit den Waffengeschäften von SIG Sauer.

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Und obwohl die SIG Sauer Inc. zuletzt fast 70 Millionen Euro in den Ausbau der US-Produktion investierte, um künftig noch mehr Waffen verkaufen zu können, konnten Michael Lüke und Thomas Ortmeier mit dem Verkauf von halbautomatischen Pistolen und Gewehren einen stattlichen Gewinn erzielen: 31 Millionen Euro allein im Jahr 2021.

Spricht man mit lokalen Politikerinnen und Journalisten in Emsdetten, sagen diese zwar, dass sie natürlich von der Holding und SIG Sauer in die USA wissen. Aber auch, dass Lüke und Ortmeier sich auffällig unauffällig verhalten.

„Die sieht und hört man gar nicht“, sagt Christian Busch, Chefredakteur der „Emsdettener Volkszeitung“, der über die Firma mehrfach berichtet und Lüke und Ortmeier auch interviewt hat. „Das sind Phantome”, sagt Kathrin Vogler, die örtliche Bundestagsabgeordnete und NRW-Landessprecherin der Linkspartei. Auf Tagesspiegel-Anfrage reagiert die L&O-Holding nicht.

Normalos auf Abwegen

Wie kann das sein? Wie kommt es, dass in diesem unscheinbaren, hübschen Städtchen eine der Firmen zu Hause ist, zu deren Geschäftsmodell blutige Tragödien in den USA gehören? Und warum ist das in der Öffentlichkeit kaum Thema?

Um das zu verstehen, muss man ins Jahr 2000 zurückgehen.

Die Geschichte von Michael Lüke und Thomas Ortmeier klingt ein bisschen wie ein Plot aus der Feder von Autoren der US-Serie „Breaking Bad“: Normalos auf Abwegen, nur im Münsterland.

Links neben dem Kamin sitzt Thomas Ortmeier, rechts Michael Lüke Foto: Christian Busch, Emsdettener Volkszeitung

Der Plot geht so: Zwei mittelständische Unternehmer aus der Provinz, Geschäftsführer der Textilwerke Emsdetten (TWE) und leidenschaftliche Jäger, haben mit Vliesstoffen derart viel Geld verdient, dass sie sich Anfang der 2000er auf die Suche nach neuen Geschäftsfeldern machen – und bei einem Konglomerat deutscher und schweizerischer Waffenhersteller landen.

Sie kaufen drei Firmen, J.P. Sauer & Sohn, Blaser sowie Mauser – „Waffenmanufakturen von internationalem Rang“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ damals anmerkt, die heute alle in Isny im Allgäu produzieren.

Aus zwei Firmen wird SIG Sauer

Zu dem Paket an Waffenfirmen gehören auch: die Sturmgewehrproduktion SAN Swiss Arms im schweizerischen Neuhausen am Rheinfall – und eine in den 1970ern gegründete Firma, die aus der Waffenproduktion der Schweizerischen Industrie Gesellschaft (SIG) und der Sportwaffensparte von J.P. Sauer hervorgegangen ist: SIG Sauer.

SIG Sauer produziert damals vor allem Pistolen wie die P225 in Eckernförde in Schleswig-Holstein – und beliefert damit primär die Polizei. Zusätzlich wird in der Schweiz das Sturmgewehr SIG 550 produziert. Außerdem gibt es einen Standort im US-Bundesstaat New Hampshire, der aber auf dem amerikanischen Markt keine große Rolle spielt.

Doch genau das wird Michael Lüke, in der L&O Holding für die Waffensparte verantwortlich, sehr bald ändern.

Kauf der Waffenhersteller als Herzensangelegenheit

Der Waffenmarkt ist schwierig. Die Ausschreibungen von Armeen und Polizeien sind kompliziert, die Exportgesetze streng. Die kleinen Gewehrhersteller lassen sich in Deutschland lukrativ betreiben – für SIG Sauer aber sucht Lüke nach einer einträglicheren Strategie.

In einem Interview mit dem ihm freundlich gesinnten Magazin „Waffenmarkt Intern“ beschreibt Lüke 2008 den Kauf der Waffenhersteller als Herzensangelegenheit – und als großen Erfolg.

„Ich hatte schon acht Blaser-Waffen, bevor ich die Fabrik kaufte, war also von den Produkten von Anfang an überzeugt“, berichtet Lüke damals. Und erklärt, die „Restrukturierung“ und der „konsequente Gang in die Internationalität“ seien seine größten Erfolge mit den Waffenunternehmen, die er salopp die „Heavy-Metal-Gruppe“ der L&O-Holding nennt.

Die Pistolen von SIG Sauer gehören zu den meistverkauften in den USA. Foto: SIG Sauer

Wer ist dieser Michael Lüke? Viel lässt sich nicht über ihn erfahren. Abgesehen von den Prospekten seiner Jagdwaffenmanufakturen tritt er kaum in Erscheinung. Er ist Jahrgang 1955, hat Betriebswirtschaftslehre studiert und bei besagter TWE erst Karriere, dann Millionen gemacht. Seine Jagdfreunde in Emsdetten nennen ihn „Johnny“.

In dem Magazinporträt von „Waffenmarkt Intern“ wird Lüke als „Polarisierer“ und „Manchester-Kapitalist“ mit „äußerst selbstbewusstem Verhandlungsstil“ charakterisiert, der andere vor allem durch „ordentliche Jägerabende“ beeindrucke.

Das passt zumindest zu dem Eindruck, den Lükes Firma in den 2000ern in Emsdetten hinterließ. 2010, drei Jahre nachdem ein ehemaliger Schüler bei einem Attentat an der Geschwister-Scholl-Realschule fünf Kinder und Jugendliche durch Schüsse verletzt, weitere mit Rauchbomben angegriffen und sich selbst umgebracht hatte, versuchten Lüke und Ortmeier in einem leerstehenden Ausflugslokal an der Ems eine Art Schulungszentrum mit Schießbahn zu eröffnen – gegen den Wunsch großer Teile der Bevölkerung. Sie scheiterten.

Illegale Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet: Lüke wird verurteilt

2014 kam es in Emsdetten zu einer Razzia. Waffen von SIG Sauer waren über die USA in Kolumbien aufgetaucht, wo Bürgerkrieg herrschte – gegen geltendes Exportrecht. Michael Lüke und Ron Cohen, Geschäftsführer der amerikanischen SIG Sauer Inc., wurden zu Geldstrafen von bis zu 900.000 Euro und Haftstrafen von zehn beziehungsweise elf Monaten auf Bewährung verurteilt. Ein dritter Manager kam mit einer geringeren Strafe davon.

Illegale Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet. Ein Prozess. Bewährungsstrafen. Hohe Geldzahlungen. Für andere wäre das der Moment, aus der Branche auszusteigen, das Geld Geld und die Waffen Waffen sein zu lassen. Nicht für Michael Lüke.

SIG Sauer geht in die USA

Für ihn ist es das Signal, Deutschland zu verlassen. Er beklagt noch per Pressemitteilung, seine Firma werde wegen der „internationalen Ausrichtung“ benachteiligt, weil „bei der Vergabe von Behördenaufträgen sowohl von der deutschen Polizei als auch von der Bundeswehr einige wenige lokale Produzenten bevorzugt“ würden.

Lüke lässt das Werk in Eckernförde schnell schließen und verlagert die Produktion Ende 2020 dorthin, wo sich die Millionen dank laxer Gesetze zum Verkauf und Export von Waffen wesentlich einfacher verdienen lassen als in Deutschland: in die USA.

Der Erfolg bleibt dort nicht unbemerkt

Auch der Unternehmer selbst verlässt um diese Zeit Emsdetten. Seine erste Ehe wird geschieden, er kauft eine Jagd-Lodge in Namibia und ein Landgut in Schleswig-Holstein. Geld genug hat er. Zurück bleibt nur die fast unsichtbare Holding in der Backsteinvilla in Emsdetten.

In den USA tritt die Lüke-und-Ortmeier-Firma SIG Sauer weniger zurückhaltend auf. Während etwa auf den Homepages von Mauser, Blaser und J.P. Sauer & Sohn Jägerinnen und Jäger mit feinen Flinten im morgendlichen Wald zu sehen sind, präsentiert die US-Schwesterfirma halbautomatische Pistolen und Gewehre wie in einem Ego Shooter – martialisch, bedrohlich, aber unernst.

„Born in Europe, perfected in America“
Selbstbeschreibung von SIG Sauer

An die Vergangenheit in Deutschland und der Schweiz erinnert nur noch ein kleiner Gruß in der Selbstbeschreibung der Firma: „Born in Europe, perfected in America“, steht da, sonst ist der Auftritt des Unternehmens ausgesprochen amerikanisch. Die Videos von SIG Sauer sind mit krachendem, rabiat männlichem Stadionrock und Heavy Metal unterlegt, als ginge es um Deo oder Dosenbier, nicht um tödliche Waffen.

Der Werbeslogan von SIG Sauer Inc.: „Never settle.“ Gib dich nie zufrieden. Es könnte das Motto von Michael Lüke sein.

Der Erfolg der deutschstämmigen SIG Sauer Inc. ist in den USA nicht unbemerkt geblieben. Als sich im Juli 2022 das wichtige House Oversight Committee des US-Repräsentantenhauses mit den Shootings in Buffalo, New York und Uvalde befasste, beschäftigte es sich unter anderem mit den Herstellern von AR-15-Gewehren. Also auch mit SIG Sauer Inc.

Sie verkaufen die Waffen und ignorieren den Einsatz

Das Komitee hatte die Schusswaffenhersteller gefragt, was sie über die Risiken und Gefahren ihrer Waffen wüssten. Die Antwort war eindeutig: SIG Sauer Inc., Smith & Wesson und die anderen Waffenhersteller gaben an, dass sie „über keinerlei Systeme zur Überwachung und Analyse von Todesfällen und Verletzungen im Zusammenhang mit ihren Produkten verfügen“.

Anders gesagt: Sie verkaufen die Waffen und ignorieren deren Einsatz.

Lüke, Ortmeier und ihre Mitarbeiter profitieren aber nicht einfach von den laxen US-Waffengesetzen. Sie investieren auch viel Geld, damit diese so bleiben.

Im Oktober 2020 gab SIG Sauer Inc. bekannt, 500.000 Dollar an die National Shooting Sports Foundation NSSF gespendet zu haben, einen mit der NRA konkurrierenden Lobbyverband der US-Waffenwirtschaft.

Ex-Präsident Donald Trump auf dem Jahrestreffen der NRA. Foto: imago/ZUMA Wire

Im Dezember 2021 verkündete das Unternehmen, es habe „einen mehrjährigen Vertrag“ über einen „sechsstelligen Betrag“ mit der Second Amendment Foundation geschlossen, einer weiteren Waffenlobbygruppe.

Im Jahr 2023 zählte SIG Sauer Inc., wie schon in den Vorjahren, zu den offiziellen „Friends of NRA Industry Supporters“, jenen Unternehmen, die die National Rifle Association unterstützen und mit einem Stand auf der Messe des Jahrestreffens der NRA in Indianapolis Mitte April vertreten sind.

Während auf der großen Bühne Donald Trump über seine geplante Rückkehr ins Weiße Haus sprach, bewarb die SIG Sauer Inc. dort eine neue Ausführung ihrer „Erfolgspistole“ P320 namens „AXG Legion“. „Die P320-AXG Legion kombiniert den Aluminiumrahmen von SIG mit einer Reihe von Upgrades zu einer Pistole, die extrem weich zu schießen sein sollte“, urteilte ein US-Waffenblog.

Auch in diesem Jahr dürfte die P320 wieder zu den meistverkauften Pistolen der USA gehören. Ihre Waffen werden Thomas Ortmeier und Michael Lüke wohl wieder Millionengewinne einbringen. Und viele Menschen töten.

Das Team

Eric Beltermann
Webentwicklung
Cornelius Dieckmann
Redigatur
Daniel Erk
Text und Recherche
Dennis Pohl
Recherche
Alexander Forsthofer
Recherche
Lennart Tröbs
Design und Visualisierung
Helena Wittlich
Datenrecherche und Produktion
Veröffentlicht am 5. Mai 2023.
Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2023.