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Tod aus Europa

Sandy Hook, die Waffen, die Profiteure

Mehr als 40.000 Menschen sterben in den Vereinigten Staaten jedes Jahr durch Schusswaffen. Für die USA ist das eine Tragödie. Für europäische Waffenkonzerne ist es ein Milliardenmarkt.
Mehr als 40.000 Menschen sterben in den Vereinigten Staaten jedes Jahr durch Schusswaffen. Für die USA ist das eine Tragödie. Für europäische Waffenkonzerne ist es ein Milliardenmarkt.

Rachel Krauss zittert, vielleicht ist es nur der kalte Wind. Mit ihrer Hand streift sie wieder an ihren schwarzen Leggings entlang, als wolle sie sich beruhigen. „Ich kann die Schüsse immer noch hören“, sagt die 17-Jährige. „Wenn jemand laut klatscht oder einen Feuerwerkskörper zündet, schrecke ich zusammen.“

Der Wind weht die Stimmen spielender Kinder über die Baumwipfel herüber. Sie kommen aus dem Neubau von Rachel Krauss’ alter Grundschule, der Sandy Hook Elementary School. Sie hat das Gebäude nie betreten. Die alte Schule – ihre Schule – wurde nach 12/14 abgerissen.

12/14 ist das 9/11 der 27.000-Einwohner-Stadt Newtown im US-Bundesstaat Connecticut. So wie die Anschläge vom 11. September 2001 für New York eine Zäsur waren, war der 14. Dezember 2012 ein tiefer Einschnitt für Newtown. Und im Leben von Rachel Krauss.

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An jenem Dezembermorgen erschoss ein Attentäter innerhalb von fünf Minuten 20 Erstklässlerinnen und Erstklässler im Alter von sechs und sieben Jahren, drei Lehrerinnen, die Schulpsychologin, die Verhaltenstherapeutin und den Rektor der Grundschule. Zuvor hatte er seine Mutter getötet, danach sich selbst.

Elf Jahre später, an einem Tag Ende April, sitzt Krauss auf einer der Holzbänke rund um das Sandy Hook Memorial. Die Gedenkstätte wurde Ende 2022 eröffnet, zum zehnten Jahrestag des Massakers, das als „school shooting“ mit den meisten Toten in die amerikanische Geschichte einging.

Amerikanische Flaggen wehen nach dem Massaker in Newtown auf Halbmast. Foto: imago/Xinhua
Vier Tage nach dem Amoklauf fährt ein Schulbus an einer Beerdigung vorbei. Foto: Getty Images/John Moore

Das Mahnmal ist ein stiller, friedlicher Ort: eine Lichtung in einem Waldstück am Rande von Newtown, in deren Mitte ein großer Ring aus Granitstein steht. In ihm fließt Wasser gegen den Uhrzeigersinn, nach zwei Stunden ändert sich die Richtung. In die Umrandung sind die 26 Namen der Toten eingemeißelt. Aus der Mitte des Rings wächst eine Platane in den Himmel – ein Baum, dem heilende Kräfte zugeschrieben werden.

Rachel Krauss überlebte den Amoklauf in Newtown. Foto: Tagesspiegel/Juliane Schäuble

Rachel Krauss war 2012 sieben Jahre alt, gerade alt genug, um in der zweiten Klasse zu sein – und damit nicht in dem Klassenzimmer, in dem die meisten Kinder starben. „Wäre der Schütze auf dem Gang links und nicht rechts abgebogen, zu den Zweit- statt den Erstklässlern, dann wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben“, sagt Krauss.

Dann erzählt sie: „Ich konnte es kaum erwarten, an diesem Tag in die Schule zu kommen. Es war kurz vor Weihnachten, und ich war dran mit Show-and-Tell.“ Amerikanische Grundschulkinder bringen dafür persönliche Gegenstände mit in den Unterricht und halten Vorträge über sie. Sie habe damals ihr pinkes Einhorn-Kissen vorstellen wollen, erinnert sich Krauss. Weil außerdem der Geburtstag einer Freundin gefeiert werden sollte, habe sie sich morgens extra einen neuen blauen Pulli angezogen.

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„Wir hatten uns gerade in einem Kreis im Klassenzimmer aufgestellt, als wir auf einmal dieses Knallen hörten, das mich an das laute Klappern einer Mülltonne erinnerte“, sagt Krauss. „Wir rannten in eine Ecke des Klassenzimmers, ich versuchte, mich unter einem Waschbecken zu verstecken, und hoffte, dass mich mein Einhorn-Kissen beschützen würde. Wir hielten uns an den Händen, alle Kinder sahen so aus, als ob sie gleich weinen würden – aber wir durften ja keinen Laut von uns geben! Über die Lautsprecher konnten wir die Schreie aus dem Lehrerzimmer hören.“

Die 17-Jährige, die mit ihren langen blonden Haaren, der großen Brille und dem schwarzen T-Shirt mit kleinen weißen Fliegenpilzen jünger aussieht als sie ist, spricht schnell, mitunter zu leise. Manchmal hält sie inne, um die aufwallenden Emotionen zurückzudrängen.

Sandy Hook war eine amerikanische Tragödie. Darin sind sich alle einig. Aber in Wirklichkeit war sie viel mehr.

Der Täter trug deutsche und österreichische Waffen

Die Waffen, die der Attentäter an jenem 14. Dezember 2012 bei sich trug, verkörpern die jüngere Waffenkultur der USA prototypisch. Der 20-jährige Täter trug exakt die Art von Pistolen und Gewehren, die seit den 90ern im Land am häufigsten verkauft worden sind. Neben einem halbautomatischen militärischen Sturmgewehr AR-15 führte er zwei halbautomatische Pistolen mit sich: eine Glock 20SF, mit der er sich schließlich selbst tötete, und eine SIG Sauer P226. Waffen deutscher und österreichischer Konzerne.

Foto: imago/UPI Photo

Vom Tagesspiegel ausgewertete Statistiken zeigen, dass bei rund einem Viertel aller tödlichen „Mass Shootings” in den USA Waffen von deutschen oder österreichischen Herstellern verwendet wurden.

Das Geld der Firma SIG Sauer landet bei zwei Unternehmern im münsterländischen Emsdetten in Nordrhein-Westfalen. Die Firma Glock kommt aus dem Städtchen Ferlach im österreichischen Kärnten.

Die europäischen Firmen produzieren Millionen von Pistolen im Land

Die beiden Firmen gehören längst zu den erfolgreichsten Produzenten von halbautomatischen Pistolen und Sturmgewehren in den USA. Blickt man auf die lange Liste der Mass Shootings im Land, sind es immer ihre Firmennamen, die ins Auge fallen. Virginia Tech 2007, Sandy Hook 2012, Orlando 2016, Las Vegas 2017, Oxford High School 2021 – bei jedem dieser Massaker führte der Täter Waffen entweder von SIG Sauer oder von Glock mit sich.

SIG Sauer produzierte im Jahr 2021 mehr als eine Million Pistolen in den USA, dazu rund 60.000 Gewehre. Die Produktionskapazitäten seines Werks in New Hampshire werden gerade massiv ausgebaut.

„Viele der Modelle, die in den USA frei verkauft werden, können in den Ländern der Hersteller selbst nicht frei verkauft werden“
Josh Sugarmann, Violence Policy Center

Auch Glock ist auf dem US-Markt erfolgreich. Der Konzern produzierte dort 2021 fast 500.000 Pistolen.

„Viele der Modelle, die in den USA frei verkauft werden, können in den Ländern der Hersteller selbst nicht frei verkauft werden“, erklärt Josh Sugarmann, Gründer der waffenkritischen NGO Violence Policy Center. „Das ist wie mit der Zigarettenindustrie in den USA: Sie verliert ihren Markt in den Vereinigten Staaten und verkauft daher die Zigaretten in Ländern der Dritten Welt zu Dumpingpreisen.“

Die Möglichkeiten auf dem amerikanischen Waffenmarkt scheinen dagegen grenzenlos. Die Menschen in den USA besitzen zusammen mehr Waffen als alle Armeen der Erde. Dank der liberalen Waffengesetze werden Jahr für Jahr mehr Exemplare verkauft. Allein 2022 waren es fast 20 Millionen.

Nach Mass Shootings steigen die Waffenverkäufe
Die Grafik zeigt, wie viele Waffen US-Amerikaner seit 2000 pro Monat kauften – nach saisonbereinigten Schätzungen. Die Berechnungen basieren auf Angaben zu Backgroundchecks des FBIs.
Daten: The Trace

Zu welchem Preis? Nach dem Sandy-Hook-Massaker, erzählt Rachel Krauss, habe sie sich viele Jahre in sich selbst zurückgezogen, gequält von Angst, Albträumen, Panikattacken, Depressionen und „survivor’s guilt“ – dem Schuldgefühl derjenigen, die überlebt haben.

„Ich war sieben, ich hatte keine Kontrolle, keine Macht. Ich war ein fröhliches Kind, als ein Massenmörder in meine Schule kam und 26 Menschen tötete“, sagt sie. „Ich lebe jeden Tag mit der Trauer und der Schuld, Gefühle, die keine 17-Jährige haben sollte. Diese Schuld muss ich immer mit mir herumtragen, wohin ich auch gehe, wie eine schwere Tasche. Und sie wird immer schwerer.“

Obama erfährt von CIA-Chef John Brennan von dem Mass Shooting. Er bezeichnete den Tag einmal als schlimmsten seiner Präsidentschaft. Foto: imago/ZUMA Wire

Erst vor ein paar Monaten hat Krauss begonnen, über den 14. Dezember 2012 zu sprechen. Dabei geholfen haben ihr Psychologen – und Po Murray, Mitgründerin der Newtown Action Alliance, eine nach 2012 gegründete NGO, die für strengere Waffengesetze kämpft. Sie ist zu dem Treffen an dem Mahnmal in Newtown mitgekommen und steht neben Krauss.

Ihre Kinder gingen früher ebenfalls auf die Sandy Hook Elementary School. Sie war eine unmittelbare Nachbarin des Täters. „Ich habe an dem Tag kein Kind verloren, aber es fühlte sich an, als hätte ich ein Stück meines Herzens verloren“, sagt Murray über das Attentat. „Was diesen Kindern angetan wurde, ist unverzeihlich. Darum müssen wir aktiv werden.“

Schusswaffen gehören zu den Haupttodesursachen bei Kindern

Rachel Krauss empfindet heute neben der Schuld auch Wut. Auf die verantwortlichen Erwachsenen, die sie nicht beschützt haben. Auf die Politik, die das Problem leugne, sich auf die Seite der Waffenindustrie stelle und selbst nach Sandy Hook noch gegen „common sense“-Regulierungen wie ein Verbot von AR-15-Sturmgewehren ankämpfe.

„Schusswaffen sind der Hauptgrund für den Tod kleiner Kinder in Amerika“, sagt Rachel Krauss. „Nicht Autounfälle, nicht Krebs – Waffen. Und das muss sich ändern.“

2021 starben nach Angaben des Center for Disease Control 4733 Kinder und Jugendliche in den USA durch Schusswaffen. Jährlich verlieren auf diese Weise im ganzen Land mehr als 40.000 Menschen ihr Leben, gut die Hälfte davon durch Suizid. Allein im laufenden Jahr 2023 hat es laut einer Datenbank des US-Magazins Mother Jones 32 Tote bei Mass Shootings in den USA gegeben.

Foto: Getty Images/East Bay Times/Digital First Media/Jane Tyska

Tatsächlich sieht alles danach aus, dass 2023 das tödlichste Jahr in der Geschichte der Schusswaffen in den USA werden wird. Rund 14.000 Menschen wurden laut der Non-Profit-Organisation Gun Violence Archive allein bis einschließlich April durch Schusswaffen getötet, weitere 10.000 verletzt – der höchste Wert des vergangenen Jahrzehnts.

Zugleich ist in vielen Staaten keine Verschärfung der Waffengesetze in Sicht. Erst vor Kurzem hat die republikanische Mehrheit in Florida ein Gesetz verabschiedet, das es Besitzern im drittgrößten US-Bundesstaat erlaubt, ihre Waffen ohne staatliche Lizenz zu tragen – ein Wahlkampfversprechen des Gouverneurs Ron DeSantis aus dem vergangenen Jahr. In den USA gewinnen Waffen noch immer Wahlen. DeSantis gilt inzwischen als Präsidentschaftsanwärter.

Wer wirklich verstehen will, wie der US-Waffenmarkt durch die Augen vieler Amerikaner aussieht, muss einen der gigantischen Waffen-Super-Stores besuchen. Zum Beispiel „Adventure Outdoors“ in Smyrna, Georgia, einem Vorort von Atlanta.

Der Waffen-Super-Store „Adventure Outdoors“ in Smyrna, Georgia. Foto: dpa/picure alliance

Nach eigenen Angaben ist „Adventure Outdoors“ das „weltgrößte Waffengeschäft“. Auf rund 7500 Quadratmetern zeigen allerlei Hersteller ihre Produkte: Jagdmesser, Nachtsichtgeräte und Tarnuniformen. Vor allem aber präsentieren sie Pistolen, Revolver, Flinten und Gewehre, darunter viele halbautomatische Schusswaffen. Stolz prangen die Namen über den Showrooms: Remington, Colt, Taurus, Beretta.

Auch dabei: SIG Sauer und Glock.

Auf der Website des Stores lockt ein Superlativ nach dem anderen: „Millionenfache Munition! Inklusive seltener Kaliber. Mehr als 15.000 Schusswaffen vorrätig! Tausende Modelle zur Auswahl.“ Die Message ist klar: Die Welt ist gefährlich, aber man kann sich dafür rüsten – und dabei Spaß haben.

Frauen sollen zum Waffenkauf animiert werden

Die Grenze zwischen Jagd und Freizeit einerseits und Selbstverteidigung und Krieg andererseits ist dabei fließend. SIG Sauer bewirbt seine Modelle der Linie „Cross“ als leichte „Präzisionsjagdgewehre“ für „tactical shooters“. Den abgebildeten Schützen in paramilitärischer Uniform, der mit einem knapp einen Meter langen MCX-Gewehr einen Hang herunterrutscht, würde man eher in einem Kriegsgebiet vermuten als im ländlichen Amerika.

Dabei war ebendieses SIG Sauer MCX eine Tatwaffe beim Massaker von Orlando 2016, bei einem der tödlichsten Mass Shootings der USA.

Mit der Glasvitrine daneben sollen offenbar Frauen zum Kauf animiert werden. Die SIG Sauer P365 für 749,99 Dollar gibt es hier nicht nur in Schwarz, sondern auch in Gold – und als glitzernde Pistole der Linie „Rose“. Erhältlich sind hier auch schwarz-rote Rosenaufkleber mit esoterischen Motivationsschlagworten, wie gemacht für die Stoßstange eines schicken SUV in Suburbia: encourage, inspire, grow – ermutige, inspiriere, wachse.

Für die einen Trauma, für die anderen Geschäft

Nebenan auf der Schießanlage mit 17 Bahnen ist das „Plop-plop“ zu hören, wenn die Waffen zum Einsatz kommen. Kunden können sie hier testen, ehe sie den Kauf abschließen. Viele kommen aber einfach nur, um ein bisschen zu schießen.

Man muss diesen Kontrast verstehen: Die Faszination und die Leichtigkeit, mit der hier Waffen beworben und verkauft werden – und das folgenreiche Business, das darauf aufbaut.

Gut ein Jahrzehnt ist seit dem Sandy-Hook-Massaker vergangen. Noch immer muss Rachel Krauss, wie alle Kinder in den USA, regelmäßig an einem ,active shooter drill‘ teilnehmen, einer Übung für den Ernstfall. Dann muss sie sich wieder in einer Ecke des Klassenzimmers verstecken, die von der Tür aus am wenigsten zu sehen ist. Das Licht wird ausgeschaltet. Die Kinder müssen mucksmäuschenstill sein. In diesen Momenten, sagt die 17-Jährige, komme alles wieder hoch.

Was für viele Amerikaner wie Krauss ein nationales Trauma ist, ist für einige wenige ein globales Boom-Geschäft. Und nicht selten sitzen die Profiteure dabei nicht in den Vereinigten Staaten – sondern mitten in Europa.

Das Team

Eric Beltermann
Webentwicklung
Cornelius Dieckmann
Redigatur
Daniel Erk
Text und Recherche
Dennis Pohl
Recherche
Alexander Forsthofer
Recherche
Lennart Tröbs
Design und Visualisierung
Juliane Schäuble
Text und Recherche
Helena Wittlich
Datenrecherche und Produktion
Veröffentlicht am 5. Mai 2023.
Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2023.