Im Wahlkampf 2017 spielten sie kaum eine Rolle, 2021 sind sie allgegenwärtig: Selfies. Baerbock mit Fahrrad, Lindner mit Freundin, Laschet mit Merkel, Scholz mit Arbeiterhelm bei Thyssenkrupp. Dass Politik sich im Wahlkampf inszeniert, ist nichts Neues, aber das Ausmaß ist 2021 ein anderes. Während 2017 noch Fernsehen und Auftritte vor Ort für die meisten Menschen das Bild von Spitzenkandidierenden prägten, verfolgen inzwischen große Teile der Bevölkerung den Wahlkampf in den Sozialen Netzwerken.
Neu hinzugekommen ist Instagram. 2017 waren auf der Plattform wenige Deutsche aktiv, geschweige denn Politiker. 2021 ist es für viele unter 35 das wichtige Medium des Alltags geworden. Mit Instagram werden auch Bilder wichtiger, denn dort sind Texte Nebensache. Formate, Gestaltung und Interface: Alles ist auf Fotos und Videos ausgelegt. Wahlkampf auf Instagram ist Selfiegewitter und Fotoschlacht. Seit Beginn des Jahres haben die Bundestagskandidierenden der großen Parteien dort 27.682 Bilder gepostet. Welche politischen Botschaften sie und ihre Parteien dort senden, sagt viel über das Selbstbild von Baerbock, Laschet und Scholz aus – und über ihr Publikum.
Im Rahmen einer Langzeitrecherche zum Wahlkampf auf Social Media haben wir deshalb erstmals alle Fotos analysiert, die von Bundestagskandidierenden der großen Parteien seit 1. Januar 2021 gepostet wurden – mithilfe automatisierter Bilderkennung. Und zum Beispiel die häufigsten Farben berechnet, herausgefunden, bei welcher Partei die meisten Schlipse getragen werden (es ist nicht die FDP), welches die Rucksackpartei ist (nicht die Grünen), wo die meisten Autos herumstehen (nicht die CDU) und wo im Corona-Wahlkampf die meisten Masken getragen werden.
Im Gegensatz zu Texten sind Fotos recht schwer analysierbar. Man kann nicht einfach die häufigsten Wörter zählen. In den vergangenen Jahren sind jedoch enorme Fortschritte im Bereich der automatischen Objekterkennung gemacht worden – angetrieben nicht zuletzt von Facebook und Google selbst. Denn um Kapital aus all den Bildern zu schlagen, die User posten, müssen diese analysierbar werden, für zielgerichtete Werbung und immer verlässlichere Algorithmen. Diese braucht es in Zukunft nämlich für fast alles: für selbstfahrende Autos, für Lieferroboter, Gesichtsfilter, Logistik, Krebserkennung und Supermärkte. Hochstapler und Vertreter nennen das künstliche Intelligenz. Die anderen nennen es maschinelles Lernen. Die komplexeren dieser Modelle arbeiten oft mithilfe sogenannter „Neuronaler Netzwerke“.
Um zu erkennen, was sich auf Wahlkampfbildern befindet, haben wir uns einige dieser Modelle zunutze gemacht. Eines davon wurde von der Forschung entwickelt, um Objekte in Bildern zu erkennen, eines, um Gesichter zu zählen – und eines, um zu bestimmen ob diese Gesichter Coronamasken tragen. Analysiert wurden ausschließlich Fotos, die von Bundestagskandidierenden öffentlich gepostet wurden. Es wurde nicht versucht, Personen auf Bildern zu identifizieren.
Am häufigsten sind auf den Bildern natürlich Menschen. Nicht nur die Kandidierenden, sondern auch Menschenmengen, Menschen im Hintergrund, Menschen auf Plakaten. Nicht einmal ein Viertel aller Posts von Kandidierenden zeigt keine Personen. Die Linke postet am häufigsten Bilder, die nicht mindestens einen Menschen zeigen (24 Prozent), bei der CDU zeigen 87 Prozent aller Fotos Menschen. Abgesehen von Personen kann das Computermodell ResNet-50 allerdings 79 Objekte erkennen. Besonders häufig findet es Tische und Stühle – kein Wunder, denn die Kandidierenden posten sehr oft Fotos von Podiumsdiskussionen und anderen Veranstaltungen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sehr häufig das typische Wasserglas auf den Fotos erkannt wird, daneben eine Flasche, oft auch mal ein Weinglas.
Spannender sind Gegenstände, die Aufschluss darüber geben, wie sich die Kandidierenden inszenieren – und in welchen Milieus sie auftreten. Interessant sind zum Beispiel die Fahrzeuge. Während vereinzelt auch mal eine FDP-Kandidatin ein Selfie mit Motorrad postet, sind die Mehrheit der Fahrzeuge auf den Bildern aller Kandidierenden vor allem Autos und Fahrräder. Und zwei Dinge fallen besonders auf: wie oft die Grünen Fahrräder auf ihren Fotos haben – und wie selten die FDP Autos zeigt.
Schaut man sich die Bilder stichprobenhaft genauer an, wird aber auch klar, warum bei den Grünen trotzdem noch so viele Autos auf den Fotos sind und auch bei der CDU eine Menge Fahrräder: Viele der Aufnahmen werden bei Auftritten in Innenstädten gemacht. Und dort stehen massenhaft Autos und Fahrräder herum. So könnte es auch sein, dass der überraschend niedrige Wert von Autos auf FDP-Bildern damit zusammenhängt, dass die FDP weniger häufig Fotos von Veranstaltungen mitten in der Stadt postet. Die Linke hingegen tut das auffällig oft. Darauf weist auch die auffällige Häufigkeit von „Schirmen“ hin, die der Algorithmus auf den Bildern findet. Dabei regnet es auf ihnen selten. Stattdessen sind die Sonnenschirme lokaler Wahlkampfstände zu sehen.
Auch sehr häufig zu sehen sind Krawatten. Einerseits an den Kandidaten selbst, die Fotos von sich mit Schlips und Kragen posten. Anderseits auch an Publikum, Moderatoren oder männlichen Mitberwerbern. Selbst auf Bildern von Baerbock finden sich häufig Krawatten. Das liegt daran, dass sie oft zusammen mit Männern auf Fotos ist, die eine tragen. Die meisten Schlipse finden sich aber interessanterweise weder bei der Partei der Besserverdienenden noch bei der konservativen CDU.
Auch die Zahl der Bücher und Topfpflanzen auf Wahlkampf-Fotos variiert nach Partei. Interessanterweise ist es ebenfalls die AfD, die am häufigsten Bücher mit auf ihren Fotos hat, oftmals in Regalen im Hintergrund der heimischen Wohnzimmer. Überhaupt zeigt die Zahl der Zimmerpflanzen und Bücherregale, wie oft in diesem Jahr der Wahlkampf von Zuhause vor dem Bildschirm geführt wird. Kein Wunder, schließlich begann das Jahr mit einem langen Lockdown.
Apropos Lockdown. Zwar ist der inzwischen vorüber. Aber die Maskenpflicht gilt vielerorts, gerade bei Veranstaltungen. Deshalb haben wir ebenfalls ausgerechnet, wie viele von den in den Fotos erkannten Gesichtern Masken tragen. Alle Kandidierenden tragen eher selten Masken. Einerseits ist das wenig überraschend, da viele Instagram-Posts Selfies sind. Und Selfies mit Maske sind vielleicht nicht der beste Weg, sein Gesicht zu zeigen. Dennoch machen das einige Kandidierende absichtlich, vielleicht als klares Statement, andere schützen zu wollen. Ein weiterer Teil der Anwärter*innen auf den Bundestag macht es offenbar absichtlich nicht.
Auf der Mehrheit der Fotos haben die Kandidierenden wenig Einfluss darauf, wie viele Menschen Maske tragen. Oft stehen Leute um sie herum oder es handelt sich um große Veranstaltungen. Deswegen sagt die Analyse mehr über die Menschen, die sich um die Kandidierenden der Parteien scharen. Und darüber, welche dieser Fotos dann auch gepostet wurden. Die Grünen und ihr Publikum sind demnach am vorsichtigsten. Die AfD mag Fotos mit Masken wohl weniger.
Tragen kann man aber nicht nur Masken. Gerade, wenn in der Innenstadt Wahlkampf gemacht wird, wird jede Menge Material angeschleppt: Flyer, Aufsteller, Wahlprogramme. Die einen machen das mit dem Laster, der Algorithmus findet viele im Hintergrund von Wahlkampffotos. Die anderen machen das eher per pedes und transportieren ihr Wahlkampfmaterial in Rucksäcken oder anderen Taschen.
Die Linke zumindest bietet Rucksäcken anscheinend jede Menge Rückhalt. Am Boden, an der Seite, auf dem Rücken der Umstehenden: Auf den Instagram-Fotos von Bundestagskandidierenden der Linken gibt es weitaus mehr Rucksäcke als in denen der anderen Parteien. Auch Jutebeutel, Taschen und Handtaschen finden sich dort überproportional häufig. Leider kann das verwendete Neuronale Netzwerk Jutebeutel noch nicht von edlen Handtaschen unterscheiden. Das wäre wohl noch interessanter gewesen.
Und der beste Freund des Menschen? Klar, Hunde sind auch auf den Fotos, wie könnte es in Deutschland anders sein. Sie sind auch die Tiere, die am häufigsten auf Wahlkampf-Fotos landen. Bei der FDP kommen sie relativ öfter vor als bei den anderen. Katzen liegen weit abgeschlagen dahinter, aber auch hier führen die Liberalen. Die Union postet dafür wesentlich häufiger Kühe als die anderen. Ein Hinweis auf Wahlkampf auf dem Land.
Die Wirkung eines Fotos hängt nicht nur davon ab, wer und was darauf abgebildet ist. Menschen können um die 20 Millionen Farben sehen. Sie wirken auf uns zumeist unterbewusst. Das macht sie besonders mächtig.
Deshalb wollten wir wissen, welche Farben sich pro Partei am häufigsten in den Fotos der Kandidierenden findet und haben die Wahlkampffotos „umsortiert“. Alle Pixel, die in allen Bildern eines Kandidaten oder einer Kandidatin vorkommen, wurden in Farbgruppen aufgereiht, sortiert nach Farbton und Helligkeit. Die Ergebnisse sind recht abstrakt. Denn Farben zu analysieren ist gar nicht so einfach. Digitale Bilder können bis zu 16,7 Millionen Farben darstellen. Und Farben funktionieren als Spektrum. Und das hat keinen klaren Anfang und kein Ende. Die Ergebnisse sind deshalb schwer zu verstehen. Interessant anzuschauen sind sie trotzdem. Also wollten wir sie niemandem vorenthalten.
Sortiert man alle Instagram-Fotos von Annalena Baerbock und alle von Christian Lindner nach Farbton, ergeben sich recht abstrakte Gemälde. Es fällt aber auf, dass in Baerbocks Bildern viele Grüntöne vorkommen, interessanterweise aber auch häufigRottöne. Dabei ist sie keine Kandidatin der SPD. Schaut man sich ihre geposteten Bilder genauer an, wird schnell klar, woher das kommt. Sie trägt häufig rote Kleidung. Bei Christian Lindner hingegen dominieren dunkle Blautöne: Er tritt in solchen Anzügen auf. Hier das Farbspektrum der beiden neben Agenturbildern von Wahlkampfveranstaltungen der beiden.
Wendet man dasselbe Prinzip auf alle Wahlkampfbilder aller Bundestagskandidierenden seit Januar 2021 an, lassen sich für jede Partei die dominanten Farben zeigen. Das Ergebnis sind abstrakte Bilder, in denen vereinzelt die Farben der Parteilogos durchscheinen.
Viele der dominanten Farben haben allerdings wenig mit den Parteifarben zu tun. Es herrschen überall viele Rottöne vor, weil viele Gesichter auf den Fotos sind. Viele der Blautöne kommen aus dem Himmel in den Fotos. Und auch das charakteristische Grau deutscher Städte kommt häufig vor.
Hier auch die Farbspektren der Linken und der AfD, wo die Unterschiede etwas klarer sind und die Parteifarben stärker hervorstechen.
Fotos von Politikern und Politikerinnen nach Farben zu sortieren, entspricht sicherlich nicht dem menschlichen Sehen. Auch kann man Farben sehr unterschiedlich sortieren. Die Farblehre ist ein mathematisch komplexeres Problem als den Meisten bewusst ist. Aber genauso ist die Wahrnehmung von Farben und was sie mit uns im Wahlkampf machen noch relativ ungeklärt. Fast so wie der Ausgang dieser Bundestagswahl. Mit mehr als 6211 Kandidierenden ist sie bunter als jemals zuvor.
Die Analyse ist Teil des Projekts „Social Media Dashboard zur Bundestagswahl 2021“, einem gemeinsamen Forschungsprojekt des Tagesspiegels und Democracy Reporting International. Es wird gefördert von der Stiftung Mercator.
Zur Objekterkennung wurde das Modell ResNet-50 genutzt, trainiert auf dem COCO-Datensatz mit über 330.000 Bildern, von denen in über 200.000 Objekte in 80 Kategorien per Hand annotiert wurden. Im Speziellen machen wir uns das vortrainierte Modell der Python Bibliothek ImageAI zunutze. In die Analysen fließen nur Objekterkennungen ein, die das Modell mit über 50% Wahrscheinlichkeit identifizieren konnte.
Um Masken in Gesichtern zu erkennen benutzen wir die MTCNN Modell-Architektur der Python Bibliothek facenet_pytorch zur Gesichtserkennung. Diese baut wiederum stark auf den wissenschaftlichen Artikeln Joint Face Detection and Alignment using Multi-task Cascaded Convolutional Networks und FaceNet: A Unified Embedding for Face Recognition and Clustering auf.
Sobald ein Gesicht erkannt ist und der Bildausschnitt des Gesichts mindestens 30 Pixel breit ist wenden wir die Maskenerkennung des Open-Source Projekts (https://github.com/chandrikadeb7/Face-Mask-Detection) der Entwicklerin Chandrika Deb an um zu erkennen ob eine Maske getragen wird oder nicht. Diese wurde auf 4095 Gesichtsbildern mit oder ohne Maske trainiert.
Instagram-Posts werden über eine Schnittstelle von Crowdtangle abgerufen. Der Analysedienst ist ein Teil von Facebook und stellt diese Daten über Online-Angebote und maschinenlesbare Schnittstellen (APIs) zur Verfügung. Diese werden von uns regelmäßig abgerufen.
Es werden ausschließlich Daten verarbeitet, die aus öffentlichen Profilen oder Posts kommen. Daten von Nutzer:innen, die ihre Posts nur für Freunde sichtbar teilen, fragen wir weder ab noch können wir sie auswerten. Dadurch ist die Zahl der analysierbaren Posts auf Twitter sehr viel größer als die auf Facebook oder Instagram, wo Nutzer:innen seltener öffentlich posten.
Der Tagesspiegel entwickelt in seinem Tagesspiegel Innovation Lab Darstellungen, Analysen und Datenabfragen. Dabei arbeiten Redakteur:innen, Designer, Datenanalyse-Spezialisten und Softwareentwickler zusammen. Außerdem widmet sich das Team – gemeinsam mit den Politikredakteur:innen und anderen Fachleuten in der Redaktion der Analyse der gewonnenen Daten. Die Analysen erscheinen in Newslettern und der gedruckten Zeitung neben Expert:innenbeiträge, Interviews und Einordnungen zu den Dynamiken des Wahlkampfs auf Social Media.
Democracy Reporting International (DRI) ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz in Berlin, die weltweit demokratische Institutionen und Prozesse analysiert und stärkt. DRI unterhält sieben Länderbüros, die vor Ort mit demokratischen Akteuren zusammenarbeiten. DRI´s Programm “Digitale Demokratie” beobachtet und analyiert in zahlreichen Ländern, ob Wahlkämpfe online fair geführt werden und nimmt zu Fragen der Regulierung Stellung. Mehr unter democracy-reporting.org
Das Projekt wird gefördert durch die Stiftung Mercator, die ihre Rolle folgendermaßen fasst: „Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung mit umfassender wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Weltoffenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Um diese Ziele zu erreichen, fördert und entwickelt sie Projekte, die Chancen auf Teilhabe und den Zusammenhalt in einer diverser werdenden Gesellschaft verbessern. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa will die Stiftung Mercator durch ihre Arbeit stärken, die Auswirkungen der Digitalisierung auf Demokratie und Gesellschaft thematisieren und den Klimaschutz vorantreiben. Die Stiftung Mercator engagiert sich in Deutschland, Europa und weltweit. Dem Ruhrgebiet, Heimat der Stifterfamilie und Stiftungssitz, fühlt sie sich besonders verbunden.“
Die Förderer nehmen keinen Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung oder die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts.