Artikel teilen
teilen
Artikel teilen
teilen
Trotz Beherbergungsverboten und drohendem Lockdown

Die Deutschen sind so mobil wie vor der Pandemie

Wir schränken unsere Kontakte und Bewegungen drastisch ein. Das empfinden wir zumindest so. Eine Analyse von Mobilfunk- und Verkehrsdaten zeigt: Von Einschränkung kann kaum die Rede sein. Die Pandemie verändert aber, wie wir uns bewegen.
Wir schränken unsere Kontakte und Bewegungen drastisch ein. Das empfinden wir zumindest so. Eine Analyse von Mobilfunk- und Verkehrsdaten zeigt: Von Einschränkung kann kaum die Rede sein. Die Pandemie verändert aber, wie wir uns bewegen.
Die Grafik zeigt die Zahl der Bewegungen in Deutschland pro Woche 2020 im Vergleich zu den Vorjahreswochen 2019. Screenshot: Teralytics
Vor allem in Urlaubsregionen ist diesen Herbst mehr los als sonst. Hier alle Bewegungen über 100 Kilometer von und nach Vorpommern-Rügen am 21. Oktober 2020. Screenshot: Teralytics

Die Coronapandemie gilt als eine Zeit des Verzichts: auf Reisen, auf Treffen mit Familie und Freundinnen, auf Freizeitaktivitäten. 43 Prozent der Deutschen nahmen sich im Coronasommer als weniger mobil wahr. Zumindest war es im Juni und Juli so, als das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum 1000 Menschen dazu befragte. Das scheint vorbei: Die Menschen sind diesen Herbst so mobil wie in den Jahren zuvor – und das, obwohl die Infektionszahlen derzeit rasant steigen.

Das zeigt eine Auswertung von anonymisierten Mobilfunkdaten der Firma Teralytics. Während der ersten Welle brach die Mobilität in Deutschland stark ein. Nun, inmitten der zweiten Welle, schränken die Menschen ihre Bewegungen kaum ein. Der blaue Bereich zeigt den Zeitraum, in dem Mobilfunkmasten 2020 weniger Bewegungen aufzeichneten als 2019. Rote Flächen zeigen, wann es mehr Mobilität als im Vorjahr gab.

Die Mobilität im Vergleich zu 2019
Die Grafik vergleicht alle Bewegungen im Jahr 2020 mit denen in 2019, bis zum 5. Oktober. Der blau hinterlegte Bereich zeigt die Zeiträume, in denen es 2019 mehr Aktivität gab.
Daten: Teralytics

Eine „Bewegung“ wird aufgezeichnet, wenn sich ein Handy bewegt und dabei in mehrere Mobilfunkmasten einloggt. Bleibt es länger als 60 Minuten (bei Flugreisen 240 Minuten) in einem Masten - oder in mehreren Masten, die aber nah beieinander liegen - registriert, gilt die Bewegung als abgeschlossen. Die Auswertung dieser Bewegungsdaten zeigt, dass sich Deutschland seit Ende Juli wieder etwa so viel bewegt wie im selben Zeitraum vor der Pandemie.

Gezählt werden Bewegungen von Mobilfunkgeräten, die sich über eine Strecke von mehr als zwei Kilometern Luftlinie bewegen. Teralytics rechnet die Daten mithilfe von statistischen Verfahren hoch, damit sie repräsentativ für die Bevölkerung sind. Sie zeichnen außerdem auf, in welchem Landkreis das Handy zuletzt länger eingeloggt war, in welchem die Bewegung endet und wie viele Kilometer Luftlinie es zurücklegt. Die Daten erfassen alle Arten von Bewegungen in allen Verkehrsmitteln: die von Pendlern und Touristen ebenso wie die von Joggern, Autofahrten ebenso wie Inlandsflüge. Eine Bewegung endet, wenn ein Handy über einen längeren Zeitraum an einem Ort bleibt.

Weniger Flüge, weniger Zugreisen, mehr Autofahrten

Die Pandemie verändert allerdings, wohin wir uns innerhalb des Landes bewegen – und welche Verkehrsmittel wir benutzen. Wie zu erwarten war, fliegen immer noch deutlich weniger Menschen als vorher. Laut Umfragen sehen es Menschen in Flugzeugen als besonders wahrscheinlich an, sich mit Corona zu infizieren. Aber auch Reisen mit dem Zug haben abgenommen.

Im Vergleich zum Vorjahr reisten 2020 deutlich weniger Menschen mit dem Flugzeug – aber auch mit der Bahn bewegten sich deutlich weniger Menschen. Daten: Teralytics | Anmerkung: Teralytics klassifiziert nur Bewegungen über mehr als 30 Kilometer nach Verkehrsmittel. Kurze Reisen mit der Bahn sind also in den Daten nicht erkennbar.

Da die Zahl der Bewegungen insgesamt jedoch wieder auf dem Vorjahresniveau liegt, kompensiert eine Zunahme im Individualverkehr anscheinend die gesunkene Zahl der Zug- und Flugreisen. Das könnte auch Teile der CO2-Ersparnisse wieder auffressen, auf die einige wegen der Pandemie hofften.

Die Pandemie verändert wohin wir reisen

Doch auch wenn die Gesamtmobilität in den vergangenen Wochen und den Herbstferien wieder auf dem Level des Vorjahres war: Das Virus hat starken Einfluss darauf, wohin die Leute reisen. Dafür haben wir die Gesamtzahl der monatlichen Bewegungen auf die Einwohner des jeweiligen Kreises umgerechnet, mit den entsprechenden Zahlen vom Vorjahr verglichen und die prozentuale Veränderung zum Vorjahr berechnet. Sie erlaubt Rückschlüsse, in welchen Regionen es große Unterschiede zum Vorjahr gibt. Und darauf, zwischen welchen Orten wir uns bewegen. Ein erster Unterschied: Es gibt mehr Bewegungen innerhalb der Landkreise, also weniger Fernreisen, aber mehr Kurztrips. Ob das aus beruflichen Gründen, für Besorgungen oder als Freizeitbeschäftigung passiert, sagen die Daten nicht aus.

Im Vergleich zum Vorjahr finden im Herbst 2020 mehr Bewegungen innerhalb der Stadt- und Landkreise statt. Daten: Teralytics | Anmerkung: Bewegungen von Urlaubern werden nur bei Hin- und Rückreise jeweils einmal gezählt. Bewegungen wie etwa Ausflüge, Besorgungen, Radtouren - zählen als Bewegungen innerhalb des Landkreises, sofern das Ziel nicht in einem anderen Kreis liegt.

Auch während des Lockdowns im April nahmen die Bewegungen hier weniger drastisch ab als diejenigen, die in einem Landkreis begannen und in einem anderen endeten. Die Ergebnisse haben wir außerdem exemplarisch mit einer Datenanalyse von Millionen Fahrzeugbewegungen des Navigationsdiensts TomTom verglichen. TomTom erhebt für große Städte, wie oft es Verkehrsbehinderungen gibt. Daraus errechnet die Firma einen Verkehrsbelastungs-Index für Großstädte. Der „Traffic Congestion Index“ gibt an, wie viel Prozent länger es zu einer bestimmten Tageszeit in einer Stadt dauert, von A nach B zu kommen – im Vergleich zu verkehrsarmen Zeiten. Unterm Strich lässt sich daraus schlussfolgern, wo auf den Straßen besonders viel los ist.

Auch in diesen Daten zeigt sich: Die Reaktionen auf Corona unterscheiden sich zwar in einzelnen Städten, die Tendenz ist aber zumeist eine ähnliche.

Städte
Der Verkehrsbelastungsindex für 2020 ist in der Pandemie niedriger als im Vorjahr. In vielen Städten ist er das immer noch.
Quelle: TomTom traffic congestion index

Die große Landflucht?

Wenn das Coronavirus Nähe zu anderen Menschen zur Gefahr macht, werden Aufenthalte in Städten - so das Gefühl - automatisch zum Risiko. In vollen U-Bahnen und engen Innenstadt-Supermärkten kommt man sich näher als auf dem Land zwischen Feldern und Seen. Das ist auch die markanteste Veränderung, die die Handydaten zeigen, wenn man sich die Landkreise im Einzelnen anschaut. In vielen ländlichen Regionen gibt es diesen Herbst mehr Bewegungen als im vergleichbaren Zeitraum 2019. Am meisten Plus an Bewegung im Vergleich zu 2019 verzeichnen vor allem ländliche Kreise. Die meisten von ihnen gelten als Urlaubsregionen.

In diesen Landkreisen stieg die Mobilität besonders
Die Tabelle zeigt die eindeutig erfassten Bewegungen pro 100.000 Einwohner zwischen dem 15. September und dem 14. Oktober 2020 im Vergleich zum Vorjahr. Eine „Bewegung“ wird aufgezeichnet, wenn sich ein Handy bewegt. Bleibt es länger als 60 Minuten in einer Funkzelle registriert (bei Flugreisen 240 Minuten), gilt die Bewegung als abgeschlossen.
Für die Analyse haben wir alle Kreise herausgerechnet, die sich an deutschen Grenzen befinden. Denn wer Deutschland betritt, dessen Bewegung beginnt in den Daten in dem Grenzlandkreis. Wenn ein Handy Deutschland verlässt, endet die Bewegung an der Grenze. Es werden also Durchreisende falsch zugerechnet. Für Kreise an den Grenzen können wir deshalb keine Aussage treffen.
Daten: Teralytics

Die Auswertung zeigt: Während die Zahl der Bewegungen zwischen Mitte September und Mitte Oktober im Vergleich zum Vorjahr in ganz Deutschland um zehn Prozent niedriger war, nahm sie in diesen Kreisen sogar zu. Den größten Bewegungs-Zuwachs hat die Region Cochem-Zell in Rheinland-Pfalz – hier findet gerade die Weinlese statt. Viele weitere Landkreise, zum Beispiel in Brandenburg, sind ebenfalls Urlaubsregionen. Das legt nahe, dass trotz Beherbergungsverbot und Reisewarnungen mehr Herbsturlaub als sonst in Deutschland gemacht wird, nicht weniger.

Eine Auswertung des Statistischen Bundesamts kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Die Zahl der Deutschen, die in deutsche Hotels eincheckt, war im August noch niedriger als 2019. Aber während es von Januar bis August zusammengerechnet 40 Prozent weniger inländische Gäste in Unterkünften gab, waren es im August nur noch 15 Prozent weniger. Campingplätze hatten im August sogar 15 Prozent mehr Zulauf als im Jahr davor. Und eine Befragung der European Travel Commission ergab: Einer von zwei befragten Deutschen hat vor, in den kommenden sechs Monaten zu reisen. Und 40 Prozent davon wollen das innerhalb von Deutschland tun.

„Wohin reisen Sie in den kommenden sechs Monaten?“
Die Grafik zeigt Antworten auf eine Umfrage der European Travel Commission. Die Organisation hat im August und September Menschen, die vorhaben, in den kommenden sechs Monaten zu reisen, zu ihren Reisezielen befragt.
Quelle: The European Travel Commission

Stehengebliebene Städte

Wer von dem innerdeutschen Tourismusboom wohl nicht profitieren wird, sind die großen Städte. Hier nimmt die Mobilität laut Handydaten vielerorts eher ab. Fast ausschließlich Stadtkreise führen die Liste der Kreise an, in denen weniger Bewegung stattfindet als im Vorjahr. Das deckt sich mit Branchenstatistiken. In Berlin waren im September 2020 laut Dehoga nur 40 Prozent der Zimmer belegt. Im Jahr davor lag die Auslastung bei rund 90 Prozent.

In diesen Landkreisen geschehen die wenigsten Bewegungen
Die Tabelle zeigt die eindeutig erfassten Bewegungen pro 100.000 Einwohnern zwischen dem 15. September und dem 14. Oktober. Eine „Bewegung“ wird aufgezeichnet, wenn sich ein Handy bewegt und sich dabei in mehrere Mobilfunkmasten einloggt. Bleibt es länger als 60 Minuten in einem Masten registriert (bei Flugreisen 240 Minuten), gilt die Bewegung als abgeschlossen.
Für die Analyse haben wir alle Kreise rausgerechnet, die sich an deutschen Landgrenzen befinden. Denn wer Deutschland betritt, dessen Bewegung beginnt in den Daten in dem Grenzlandkreis. Wenn ein Handy Deutschland verlässt, endet die Bewegung an der Grenze. Auch die Handys etwa von Durchreisenden werden aufgezeichnet, außerdem verzerrt die Menge der Einreisenden, die nur wenigen Landkreisen zugeordnet werden, die Erhebung. Für Kreise an den Grenzen können wir deshalb keine Aussage treffen.
Daten: Teralytics

Die gesunkene Mobilität in vielen Ladkreisen könnte neben den fehlenden Touristen daran liegen, dass viele Berufspendler ihr Büro nach Hause verlagert haben. Die TomTom-Daten (s.o.) bestätigen den Eindruck.

In Hotspots geht die Mobilität leicht zurück

Wie geht es weiter? Die Fallzahlen steigen rasant, immer mehr Landkreise gelten als Hotspots – in denen die Sieben-Tages-Inzidenz bei über 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern liegt? Eine Auswertung des Statistischen Bundesamts zeigt, dass dort die Mobilität im Vergleich zu weniger betroffenen Landkreisen um rund 6 Prozent geringer ist. Vielleicht ist es mit der neuen Reiselust im Inland also wieder vorbei, wenn bald fast alle Landkreise als Risikogebiete gelten.

Unterstützen Sie
unabhängigen Journalismus für Berlin.
Unser bester Journalismus
im günstigen Digitalabo.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Zur Anmeldung Zur Anmeldung
Mehr zur Recherche
Was sind das für Daten?

Woher kommen die Daten?

Die Mobilfunkdatensätze hat die Schweizer Firma Teralytics zur eigenen Auswertung kostenlos zur Verfügung gestellt. Teralytics erhält anonymisierte Daten von Mobilfunkbetreibern und bereitet sie auf, um Mobilitätstrends auf regionaler Ebene zu analysieren. Diese Daten und Analysen verkauft Teralytics etwa an Verkehrsplaner und Transportunternehmen. Beispielsweise, um ihre Streckenplanung oder Fahrpläne anzupassen.

Teralytics rechnet die übermittelten Bewegungsdaten mithilfe von statistischen Verfahren hoch, sodass sie die Bewegungen in der Gesamtbevölkerung repräsentieren.

Wie sieht es mit dem Datenschutz aus?

Die Bewegungsdaten werden datenschutzkonform erfasst und aufbereitet, wie das Unternehmen mitteilt. Die Daten sind konform mit der EU-Datenschutzgrundverordnung und mit deutschen Datenschutz-Vorgaben. „Unsere Technologie erfüllt alle nationalen und internationalen Datenschutz- und Sicherheitsstandards, die in den Regionen und Ländern gelten, in denen wir tätig sind“, teilt Teralytics mit. Auch die BVG und die Deutsche Bahn haben bereits Daten von Teralytics genutzt.

Wie haben wir die Daten analysiert?

Wir haben sie heruntergeladen, auf die Ebene von Landkreisen zusammengefasst und auf die Bevölkerung der Landkreise umgerechnet. Für die Analyse auf Landkreisebene haben wir alle Kreise, die an deutschen Landesgrenzen liegen, herausgerechnet. Sonst würde auch Durchgangsverkehr erfasst, der die Ergebnisse verzerrt hätte. Denn Eintritte nach Deutschland würden so wirken, als wäre dieser Landkreis der Ausgangspunkt einer Reise innerhalb Deutschlands, da die Mobilfunkdaten nur für das Netz in Deutschland erfasst werden. Während der Analyse haben wir uns wiederholt mit Datenwissenschaftlerinnen von Teralytics ausgetauscht, um sicherzustellen, dass unsere Rechenwege zu den Daten passen. „Anstatt an internationale Ziele zu reisen, steuern die Menschen jetzt lieber inländische Destinationen an. Es macht daher Sinn, dass ländliche Ziele einen Aufwärtstrend verzeichnen”, sagt Georg Polzer, Head of Strategy bei Teralytics.

Die Autoren

Eric Beltermann
Datenaufbereitung
Nina Breher
Text, Analyse & Datenrecherche
David Meidinger
Datenanalyse und Visualisierung
Veröffentlicht am 23. Oktober 2020.