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Sie fehlen.

Volker Eckert, 73
Koch
Gestorben am 14. April 2021
Er hatte nicht vergessen, was Kindern am besten schmeckt.

Wenn er zur Arbeit kam, überpünktlich schon gegen 9 Uhr 30, dann saßen die Kleinsten manchmal noch beim Frühstück in der Küche. Volker setzte sich für einen Plausch dazu. Die Stelle als Koch im Britzer Kinderladen Purzelbaum hatte er angenommen, um seine Rente aufzubessern. Doch der Kontakt zu den Kindern war ihm nicht weniger wichtig. Bald war er sowieso nicht mehr wegzudenken.

Bereitete er das Mittagessen zu, durften Kinder helfen. Er schälte Kartoffeln, sie schmissen jede einzelne in den Topf. Sie rührten die Suppe. Niemals warf er irgendwen aus seiner Küche, in der er gern deftig kochte: Königsberger Klopse, Hühnerfrikassee, Senfeier, aber auch Eierkuchen und Pudding. Er, zu entbehrungsreicher Zeit im sächsischen Dahlen geboren, hatte nicht vergessen, was Kindern am besten schmeckt.

Nach einem Umzug wuchs Volker in Friedrichshain auf. Er erzählte den Kindern vom Spiel in Ruinen und wie er als Mutprobe von der Oberbaumbrücke in die Spree sprang. Als die Mauer gebaut wurde, konnte er seine geliebte Großmutter nicht mehr besuchen, die nur ein paar Meter weiter wohnte, am Schlesischen Tor. Bei der NVA machte Volker eine Ausbildung zum Koch, später arbeitete er bei der Mitropa: Tischdecken, Porzellangeschirr – und unter seinen Gästen Schauspieler und DDR-Funktionäre.

Lange dachte Volker über Flucht nach, doch er hatte einen kleinen Sohn, den er nicht allein lassen wollte. Mit seiner Frau fasst er schließlich einen Plan: 1987 stieg er am Bahnhof Zoo aus dem Zug – und nicht wieder ein. Er arbeitete in Kantinen und Restaurants, sobald er konnte, holte er seine Familie nach. Doch die Ehe zerbrach. Als er in den 90ern den Imbiss „Planeten-Grill“ in Neukölln betrieb, verliebte sich in eine Kundin und heiratete erneut. Er schloss den Imbiss und eröffnete ein Restaurant. Die gemeinsame Tochter, 2001 geboren, war sein Stolz. Seine größte Freude: der kleine Enkelsohn, jetzt ein Jahr alt. Er wünschte sich sehr, ihn aufwachsen zu sehen.

Im Dezember meldete sich Volker im Kinderladen mit einem Husten krank. Die Hausärztin, die er anrief, um ein Medikament zu erbitten, schickte ihm sofort den Notarzt vorbei. Dann künstliches Koma, Beatmung. Er hat das Krankenhaus nicht mehr verlassen.

Foto: privat
Jürgen Riedel, 80
Architekt
Gestorben am 27. Februar 2021
Mit seinen Kollegen sanierte er einige der Prachtbauten Unter den Linden.

Heimlich, ohne seiner Familie etwas erzählt zu haben, flüchtete Jürgen Riedel zu Zeiten des Mauerbaus in den Westen. Zunächst landete er in einem Notaufnahmelager, er holte das Abitur nach und studierte Architektur. Die technische Seite des Bauens machte ihm Spaß. Meist arbeitete er in großen Büros, mit seinen Kollegen sanierte er einige der Prachtbauten Unter den Linden. Eine Ambition, sich mit eigenen Entwürfen ins Stadtbild einzuschreiben, hatte er nicht.

Der Beruf ermöglichte es ihm, seine beiden Leidenschaften zu finanzieren: das Reisen und das Tauchen. Zusammen mit seiner Frau oder Freunden bereiste er alle Kontinente außer die Antarktis. Am Wochenende unternahm er Ausflüge nach Wittenberge oder Prag, überall führte er die Mitreisenden mit architektonischen Wissen durch die Stadt. Nach der Rente fuhr er in sächsische und brandenburgische Dörfer, um dort in Kirchenbüchern Familiengeschichte zu recherchieren. Er kam bis ins 16. Jahrhundert.

In der Corona-Zeit war es mit dem Reisen erstmal vorbei. Jürgen Riedel und seine Frau genossen die Zeit mit ihrem Kater und ihrer Tochter, die sie häufig besuchen kam. Fast täglich machte Jürgen Riedel Fahrradtouren.

Nach einem Unfall musste er im Februar ins Krankenhaus, nichts Schlimmes. Als auf seiner Station Corona ausbrach, wurde er vorzeitig entlassen. Zu Hause steckte er seine Frau an. Zwölf Tage nach seinem positiven Testergebnis ist er auf der Intensivstation gestorben. Er hatte schon einen Impftermin, zwei Wochen später.

Foto: privat
Renate Ullmann, 83
Musikschullehrerin
Gestorben am 19. Februar 2021
Sie war heiter und gelassen, stark und selbstständig.

Eine Gemeindeschwester erkannte ihr musikalisches Talent, damals, in den Nachkriegszeiten in der Evangelischen Brüdergemeine Neudietendorf nahe Erfurt. Alleinstehende Frauen kümmerten sich hier um die, die den Krieg überlebt hatten. Renate Ullmanns Vater war im Krieg vor Stalingrad verschollen, aber das Üben am Klavier, so hat sie es selbst einmal erzählt, erschien ihr eine wunderbare Flucht vor dem Alltag, vor Hunger und Kälte. Sie spielte sehr gut und liebte auch das Cello – später wagte sie es, in Weimar ein Studium zur Musikerzieherin zu machen.

Vorher, in der Schule etwa, eckte sie immer wieder damit an, sich nicht den Regeln der FDJ oder der DDR zu unterwerfen, die Evangelische Kirche, ihr Gottesglaube, waren ihr immer Halt im arbeitsintensiven Leben. Sie bekam nach einer kurzen Beziehung einen Sohn, zog ihn allein groß. Mit ihrem späteren Mann zog sie 1968 nach Berlin-Köpenick, sie bekamen noch zwei Kinder, aber schon bald musste sie nach der Scheidung alleine Beruf und Erziehung bewältigen. Sie tat es stets heiter, witzig und gelassen, ahmte ziemlich perfekt Dialekte nach oder machte Wortspiele; schrieb gerne lautmalerisch. Andererseits konnte sie es genießen, nur mit sich zu sein – autonom, selbständig, eine Frau, die in sich ruhte und mitten im Leben stand.

In Köpenick brachte sie Generationen von Kindern das Cello- und Klavierspielen bei. Nach dem Unterricht eilte sie abends zu Fuß nach Hause, niemand wusste, warum sie nie das Fahrrad nahm, um die Kinder noch kurz zu sehen, bevor sie ins Bett mussten. Das Schönste für sie waren die Proben mit der St.-Laurentius-Kantorei in Köpenick, das Orgelspielen in der Kirche und – einfach gemütliches Entspannen zu Hause. Schicksalsschläge wie der Unfalltod ihres ältesten Sohns trafen sie tief, aber sie machte weiter, wurde nie krank. Als die Enkel kamen, war sie natürlich verliebt.

Sie hatte Mut, sich auf Neues einzulassen; ließ sich überreden, obwohl sie schon Ende 70 war, noch einmal umzuziehen, von Ost nach West; von Köpenick nach Wilmersdorf, weil sie so viel besser erreichbar und nicht alleine war. Und siehe da: Ihr Umzug war ein Erfolg – sie lebte sich als alte Dame noch sehr gut in den neuen Kiez ein, mochte die Nachbarschaft, freundete sich mit den Hausbewohnern an und begann, in einem Seniorenkabarett Klavier zu spielen.

Dann kam das Corona-Jahr, sie verstand nicht immer, warum Kinder und Enkel sich nur noch draußen mit ihr treffen wollten, fand die Sorge manchmal unbegründet, freute sich dennoch, wenn die Familie auf einer Parkbank Kaffee trank. Sie vermisste das Kino am Bundesplatz, die Treffen mit Freundinnen, Gemeindeabende, unbesorgte Treffen mit Kindern und Enkeln. Trotz innerer Bedenken, aber mit Schnelltests und Abstand feierten alle noch ein letztes gemeinsames Weihnachten – der Sohn sang mit Maske zum offenen Fenster hinaus „Tochter Zion“, sie spielte Klavier und sagte: „Junge, erkälte dich nicht!“ Anfang Januar stürze sie zu Hause, brach sich den Oberschenkelhals. Nach der OP gab es Komplikationen; sie infizierte sich im Krankenhaus mit dem Virus.

Foto: privat
Ralf Götz, 75
Abteilungsleiter Operating
Gestorben am 16. Februar 2021
Keine Klippe war ihm zu hoch, von der er sich ins Meer stürzte.

Es gibt Menschen, die hätten in vergleichbarer Situation vielleicht mit ihrem Schicksal gehadert. Ralf Götz nicht. Nicht damit, dass er ohne Vater aufwuchs, nicht, dass er mit Mutter und Schwester in einer Laube lebte, in der es keine Toilette gab und im Winter nicht wirklich warm wurde. Denn zum einen war so etwas im Berlin der Nachkriegsjahre nicht ungewöhnlich, als die Wohnungsnot groß war. Zum andern hatten sie alles, was sie brauchten.

Jedenfalls sollte Ralf Götz später von dieser Zeit schwärmen, vom großen Schrebergarten, in dem sie Kaninchen hielten, Obst und Gemüse anbauten. Nicht einmal ein Badezimmer vermisste er damals. „Ich bin im Dreck groß geworden“, pflegte er zu sagen, „deshalb ist mein Immunsystem auch so gut.“ Bis zu seinem 17. Lebensjahr wohnte er in dieser Reinickendorfer Laube, dann musste sie einem Neubaugebiet weichen, dem Märkischen Viertel, das dort in die Höhe wuchs und in dem sie zu den ersten gehörten, die eine Neubauwohnung bekamen.

Die Liebe zum Gemüse sollte ihm bleiben. Ralf Götz war zeitlebens ein leidenschaftlicher Hobbykoch. Er schaffte es damit sogar in die ZDF-Küchenschlacht, schied als Drittplatzierter aus, was ein bisschen ungerecht war, denn im entscheidenden Moment versagte bei ihm der Herd. Jedenfalls hat er die Geschichte so erzählt. Dafür war er im Beruf erfolgreich, stieg zum Abteilungsleiter Operating im Konrad-Zuse-Zentrum der Berliner Hochschulen auf, war ein früher Computerexperte.

Mit gerade mal Mitte 40 starb seine Frau an Krebs. Doch Ralf Götz fand Halt in einer neuen Partnerin. Kochte für sie, reiste mit ihr, organisierte für sie und ihre Freunde Fahrradtouren, die Elbe entlang und um die Müritz. Sie unterstütze ihn bei seinen Aktivitäten, auch wenn sie nicht immer mitging. Denn Götz war ein Sportler aus Leidenschaft, der auch mal Risiken einging. Keine Klippe war ihm zu hoch, von der er sich ins Meer stürzte. Er wanderte den Jakobsweg, ging allein über die Alpen, lief Halbmarathon und Marathon, Jahr für Jahr. Ein bisschen hoffte er wohl, auf diese Weise für immer jung zu bleiben, mit seinem Immunsystem und seiner Zähigkeit.

Die Rückenschmerzen an Weihnachten 2020, sie kamen in ihrer Heftigkeit denn wohl auch überraschend. Es dauerte, bis er ein Krankenhaus fand, das ihn aufnahm. Corona hatte sie alle an den Rand ihrer Kapazitäten gebracht. Die Diagnose war niederschmetternd, Knochenmarkskrebs. Aber es bestand Hoffnung, eine Therapie sei möglich, sagten die Ärzte. Vielleicht wäre es so gekommen, wenn er sich im Krankenhaus nicht mit Covid 19 infiziert hätte.

Foto: privat
Haben Sie jemanden durch Corona verloren?
Auf dieser Seite erinnern wir an Berlinerinnen und Berliner, die an Covid-19 gestorben sind. Dies ist ein Anfang. Alle Porträts beruhen auf den Erzählungen Hinterbliebener. Möchten Sie uns auf einen Menschen aufmerksam machen?
Hans Erich Sapadtka, 87
Gartenbauer & Friedhofsmitarbeiter
Gestorben am 13. Februar 2021
Er war ohne Ausbildung, aber lernte sein Leben lang.

Als sein Leben im Mai 1933 begann, war es sogleich gefährdet. Denn die Mutter, über die er nichts wusste, legte ihn vor einer Kirche in Prenzlau ab und ging. Er wurde zum Findelkind, aber darüber sprach er wenig, denn er fand, dass er doch eine ganz schöne Kindheit hatte. Behütet. Trotz des nahenden Krieges. Er war später ein Mann ohne Ausbildung, aber was heißt das schon: Er arbeitete trotzdem immer gern, mal bei der Marine, auch beim Tiefbauamt und später war er Garten- und Friedhofspfleger, und wenn der Organist ausfiel, dann setzte er sich auch an die Orgel.

Hans Erich Sapadtka war vor allem ein Mann für alle Fälle und immer bereit, dazuzulernen. Und er hatte Talente, zum Beispiel war er musikalisch, ein Autodidakt, wie in vielen anderen Bereichen, liebte auch den Modellbau. Als er schon älter war, hatte er keine Scheu vor dem Laptop oder dem Handy. Er fummelte sich schon zurecht.

Seine Ehefrau, mit der er fünf Kinder bekam, vier Söhne, eine Tochter, lernte er in Mecklenburg-Vorpommern kennen. Und als sie als politische Querdenkerin aus der DDR, aus Neuruppin, flüchten musste, kam er hinterher. Fortan lebten sie in Berlin, die Familie musste den Vater allerdings auch teilen - denn da war noch eine große Liebe: Hunde. Speziell Dackel hatten es Hans Erich angetan. Die Tochter erinnert sich kaum daran, dass der Vater mal ohne Hund unterwegs war.

Als vor einigen Jahren seine Frau starb, wollte Hans Erich nicht mehr aus dem Haus gehen, dann verstarb auch noch der letzte Dackel. Fortan war es Kater Henry, mit dem er zu Hause saß und am liebsten Sendungen schaute, in denen Züge mit eingebauter Kamera durch die Lande fuhren.

Als es im vergangenen Dezember körperlich immer weiter bergab ging, kam er ins Krankenhaus zum Durchchecken und Aufpäppeln. Das gelang auch. Er hatte gekämpft, hatte seinen Rollator wieder fest im Griff und wollte unbedingt Kater Henry wiedersehen. Das war sein Antrieb. Kurz vor der Entlassung war der Test coronapositiv.

Foto: privat
Dorothea & Gerhard Schulz, 81 & 84
Kindergartenköchin & Grundschulhausmeister
Gestorben am 9. und 15. Februar 2021
All die Jahre waren sie einander in inniger Liebe zugetan.

Ein Sommerfest im Jahr 1962, auf der Bühne spielt eine Drei-Mann-Band. Hinterm Keyboard: Gerhard. In der Menge: Doris. Der Tango-Schlager „Tanze mit mir in den Morgen“ ist ein Hit in diesem Jahr, in dem Gerhard und Doris sich zum ersten Mal begegnen, miteinander tanzen. Drei Jahre später heiraten sie.

Die Musik bleibt ihre Begleiterin, 55 Jahre lang, sie lieben James Last und Vicky Leandros. Sind sie bei Geburtstagsfeiern eingeladen, spielt Gerhard auf dem Akkordeon, singt auch dazu: „Und dann die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein.“ Denn das sind sie. Einander in inniger Liebe zugetan, aber auch nach außen: offen, freundlich, kontaktfreudig.

Dass ihre Kindheit in den Kriegsjahren keine gute war, davon lassen sich Doris und Gerhard die Gegenwart nicht vermiesen. Doris, 1939 in Neukölln geboren, rettet sich mit ihrer Familie in die dortigen Bunker. Gerhard flieht im Grundschulalter mit Mutter und Schwester 1945 aus Reitwein, nahe der heutigen polnischen Grenze. Die Mutter wird erschossen. In Berlin kommen die Kinder bei einer Tante unter.

Später dann, selbst Eltern zweier Töchter, leben Doris und Gerhard gemeinsam in Neukölln. Sie arbeitet als Köchin in einem Kindergarten, er als Hausmeister in einer Grundschule. Seinem grünen Daumen ist es zu verdanken, dass auf dem Schulhof alles ordentlich wächst und blüht. Die zwei Berliner Enkeltöchter lernen in seinem Schrebergarten, wann welche Zwiebel gepflanzt, welcher Strauch geschnitten werden muss.

Sie wollten alle zusammen noch mal in den Schwarzwald reisen, zur fortgezogenen Tochter; auch gemeinsam ein paar Tage an die Ostsee. Sie waren längst nicht fertig mit diesem Leben. Wohlweislich schützten sie sich vor Corona, gingen kaum raus. Für eine Routine-OP musste Gerhard ins Krankenhaus, beim stundenlangen Warten auf das Vorgespräch steckten sie sich wohl an. Als er im Sterben lag, gab auch sie auf.

Foto: privat
Frank-Rüdiger Scherz, 70
Steuerberater
Gestorben am 28. Januar 2021
Er liebte den Frühling, Korsika und Kinder.

Im Grunde war Frank-Rüdiger Scherz ein Abenteurer, bereit, in Kauf zu nehmen, dass auch mal etwas schief geht. Er war auch nicht immer Steuerberater. Nur enge Freunde wussten, dass er in jungen Jahren zur See gefahren war, auf einem Küstenmotorschiff rüber nach Skandinavien. Das war lange, bevor er Familienvater wurde.

Doch dann besuchte er die Hotelfachschule, lernte Koch bei Heinz Zellermeyer, einer legendären Figur in der West-Berliner Nachkriegsgastronomie. Zellermeyer war es, der den amerikanischen Stadtkommandanten überredete, die Sperrstunde abzuschaffen. Was wiederum Frank-Rüdiger Scherz später zu Gute kam, der sich selbst zusammen mit einem Partner mit einem Restaurant selbstständig machte, das er bis tief in die Nacht betrieb.

So etwas ist natürlich auch nichts für einen Familienvater. So studierte er nebenher Betriebswirtschaft, machte die Steuerberaterprüfung. Die Abenteuer verlegte er in die Freizeit. In seiner Jugend spielte er Wasserball, segelte, und vor allem war er ein ambitionierter Kletterer. Was ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Er stürzte ab, verletzte sich schwer am Rücken, die Schmerzen gingen nie mehr weg.

Beim Kochen lernte er seine Frau kennen, beim Kochen entspannte er mit Freunden. Tochter Laura lernte früh, Seezunge mehr zu schätzen als Fischstäbchen. Die Ehe hielt nicht. Die Liebe der Tochter schon, nicht lange nach der Trennung zog die 15-Jährige wieder bei ihm ein. Fortan reisten Vater und Tochter allein zu seinen Lieblingszielen, Sardinien und Korsika. Die gesundheitlichen Probleme aber überschatteten die Jahre, die folgten. Eine Diabetes kam dazu.

Vergangenes Jahr machte ein arterieller Gefäßverschluss die Amputation beider Beine erforderlich. Doch Scherz, der Kämpfer, stand das durch. Die Geburt seiner Enkeltochter gab ihm Hoffnung: Er liebte Kinder, engagierte sich seit längerem als Lesepate. Schon bald kannte jeder auf der Station die Bilder seiner Enkelin, der Mietvertrag für die behindertengerechte Wohnung war schon unterschrieben. In der Reha infizierte er sich mit dem Virus.

Foto: privat
Janusz Cybulski, 64
Händler & Übersetzer
Gestorben am 20. Januar 2021
Er glaubte stets an seine Träume, mochten andere sie auch hochfliegend finden.

Als Janusz Cybulski 1957 geboren wurde, da hieß seine Heimatstadt Gleiwitz längst Gliwice und Schlesien war Slask geworden. Aber für die Nachbarn blieb Janusz ein halber Deutscher. Das hatte mit dem Großvater zu tun, der im Zweiten Weltkrieg als deutscher Soldat in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geriet. Und mit der Großmutter, die sich bei Kriegsende weigerte, die alte schlesische Heimat zu verlassen. Weil, wie sollte ihr Mann sie denn finden, falls er doch eines Tages zurückkommen sollte?

Der kam tatsächlich wieder, nach Jahren. Die gemeinsame Tochter heiratete einen polnischen Nachbarn, und diese beiden wurden die Eltern von Janusz. Er studierte in Kattowitz Diplomökonomie oder Betriebswirtschaft, wie man heute sagt, und lernte Krystyna kennen, die Liebe seines Lebens. Im Dezember 1981 übernahm in Polen das Militär die Macht, um die Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarnosc zu stoppen. Da wollte Janusz Cybulski nicht länger bleiben. Er ging in das einzige Land, in dem er die Menschen ebenfalls verstand, er ging nach Berlin.

Schon bald holte er Krystyna nach, die beiden heirateten, zogen in eine gemeinsame Wohnung im Märkischen Viertel, 1985 wurde Sven-Volker geboren. Aus Janusz dem Polen wurde Johannes. Er interessierte sich für deutsche Fußballmannschaften, in denen Polen spielten, Jakub Blaszczykowski, Lukasz Piszcek, Robert Lewandowski, Lukas Podolski und Miroslav Klose. Die Familie verbrachte ihren Urlaub am liebsten auf Usedom, und zwar im polnischen Teil in Swinemünde. Flaczki, die polnische Kuttelsuppe, blieb sein Lieblingsessen. Und die meisten seiner beruflichen Engagements waren grenzüberschreitend. So vermarktete er deutsches Speiseeis in Polen und, als das nicht mehr lief, polnische Einbauküchen in Deutschland. Unterkriegen ließ sich Janusz Cybulski nie.

Im Gegenteil, er glaubte stets an seine Träume, mochten anderen sie auch hochfliegend finden. Das eigenartige war, erinnert sich der Sohn, dass seine Mutter am Anfang die größeren Probleme hatte, weil sie ausschließlich polnisch sprach. Doch sie legte schließlich die alte Staatsangehörigkeit ab und wurde Deutsche. Janusk Cybulski blieb hin- und hergerissen, fand aber schließlich etwas Verbindendes: Slask, das alte Schlesien. Er übersetzte Joseph von Eichendorffs Gedichte ins Polnische, schrieb selbst Gedichte auf polnisch, die mit der Heimat zu tun hatten.

Als seine letzten beruflichen Pläne nicht mehr aufgingen, fing er in einem Pflegeheim an zu jobben. Er kontrollierte am Eingang Besucher auf ihre Masken. Ob er sich dort infizierte, wird nie geklärt werden können. Krystyna zeigte die ersten Symptome, bei ihr verlief die Krankheit milde. Johannes-Janusz kam am 23. Dezember mit Atemproblemen ins Krankenhaus, am 29.12. musste er intubiert und in die Charité verlegt werden. Sie versetzten ihn ins künstliche Koma. Er starb am 20. Januar, einen Tag nach seinem 64. Geburtstag.

Foto: privat
Asisullah Asisi, 83
Arzt
Gestorben am 16. Januar 2021
Für Heimweh war er viel zu beschäftigt.

Sonntags kam die Familie bei ihm zusammen, Enkel und Kinder. Asisullah Asisi kochte. Es musste schon etwas Außergewöhnliches passieren, dass sie dieses Ritual mal verschoben. Und sie behalten es bei, obwohl er nun fehlt. Oder: weil er fehlt.

Asisullah Asisi hatte nicht vor, sein Leben in Berlin zu verbringen, als er 1971 mit seiner Frau und den drei jüngeren Kindern aus Kabul herzog. Hier wollte er sich zum Facharzt in Urologie ausbilden lassen – um anschließend in Afghanistan zu arbeiten. Doch als die Familiebegann, ihre Rückkehr vorzubereiten, wurde die Lage in ihrer Heimat instabil: Staatsstreich, Einmarsch der Sowjets, Krieg. Asisullah Asisi, mittlerweile angestellter Arzt in einem Klinikum, war für Heimweh viel zu beschäftigt. Zeit, die blieb, bekam seine Familie.

Mit liebevoller Strenge und Ungeduld half er seinen Kindern bei den Hausaufgaben, Mathe, Latein, in Biologie schweifte er manchmal ab. Allabendlich ging er die letzte Runde mit dem Familienhund in Begleitung seiner ältesten Tochter. Dass Hunde in Afghanistan nicht beliebt sind, schon gar nicht als Haustier, juckte ihn nicht. Wozu Regeln, wenn man nicht dahintersteht? Er, von Haus aus Muslim, liebte Rotwein und rauchte fast sein ganzes Leben lang. Für die Tochter klaute er unterwegs eine Rose. Als die sich nur schwer abknicken ließ, biss er den Stiel einfach durch.

Nach dem Tod seiner Frau vor zehn Jahren hatten seine vier Kinder ihn fast immer dabei: im Urlaub, im Restaurant, bei Hochzeiten, zu Weihnachten sowieso. In der Pandemie kauften sie für ihn ein – trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, kleinere Besorgungen noch selbst mit dem Auto zu erledigen.

Er machte Pläne für die Silvesterfeier; für eine Reise nach Pakistan, wo er unbedingt seine zwei Schwestern besuchen wollte. Er stockte seinen Weinvorrat im Keller auf. Kurz nach Weihnachten stellte sich heraus, dass sein Husten Covid-19 war.

Foto: privat
Lothar Noack, 77
Kinderchirurg
Gestorben am 15. Januar 2021
Oft nahm er nur ein sehr dünnes Blatt vor den Mund, wenn es galt, über die Verhältnisse in der DDR zu urteilen.

Seine erste lebhafte Kindheitserinnerung: wie er im Kinderwagen durch das brennende Berlin geschoben wurde. Sein Vater blieb im Krieg, worüber Lothar sein Leben lang traurig war. Nicht zuletzt, weil er gern Geschwister gehabt hätte.

Lothar Noack studierte Medizin an der Humboldt-Universität Berlin und verdiente sich nebenher etwas als Hilfspfleger im Tierpark Friedrichsfelde. Auch um Englisch zu üben, begleitete er ausländische Touristengruppen bei Stadtrundfahrten durch Ost-Berlin. Fragten die Gäste nach, war er oft auf Zuflüsterungen des Fahrers angewiesen. Als er einem Freund zur Republikflucht in der Decke eines Transitzuges verhelfen wollte, flogen beide auf: Ein Jahr Bewährung auf der "Großbaustelle des Sozialismus", dem Petrolchemischen Kombinat in Schwedt. Verloren war die Zeit für ihn nicht, lernte er doch viel Handwerkliches von seinen Kollegen.

Lothar wurde Kinderchirurg, Oberarzt und Wissenschaftler in Berlin-Buch. Als Kulturbeauftragter des Klinikums hielt er Dia-Vorträge über die Geschichte Berlins, im Publikum saß Lotte Ulbricht. Lothars große Liebe hieß Cornelia, zwei Söhne wurden geboren, Karow wurde ihr zu Hause. Das Land, in dem sie lebten, betrachtete Lothar durchaus kritisch. Er organisierte Lesungen mit bekannten Autoren wie Günter Grass und Stefan Heym. Den Spiegel schmuggelte ein Freund ihm unterm Autositz ins Land.

Beim Stehen am OP-Tisch schmerzte ihm zunehmend der Rücken, an einer Maschine im Keller versuchte er vergeblich, dagegen anzurudern. Die Umstellung des DDR-Gesundheitswesens auf das bundesdeutsche System kostete ihn persönlich viel Mühe. Nach einigen Jahren wechselte er in den Dienst der Krankenversicherung und achtete dort darauf, dass bei aller notwendigen Wirtschaftsorientierung die medizinische Notwendigkeit nicht auf der Strecke blieb. Noch im Ruhestand arbeitete er als medizinischer Gutachter. Da bauten seine Frau und er sich ein Haus im ruhigen Potsdam-Bornim mit Blick über die Streuobstwiese. Hierher kamen alle gern, die beiden erwachsenen Söhne mit ihren Familien. Die ganz große Freude wurden die drei Enkelkinder.

Im Sommer 2020 wurden die Rückenschmerzen so schlimm, dass ihm das Laufen schwerfiel. Die Orthopäden fanden nichts, bis schließlich die Diagnose Knochenmarkkrebs mit Niereninsuffizienz kam. Bestrahlung, Chemotherapie in der Klinik „Ernst von Bergmann“, Dialyse – an Weihnachten winkte Lothar seiner Familie vom Fenster aus zu. Es ging ihm besser. Dann infizierte er sich mit dem Coronavirus. An seinem 48. Hochzeitstag versetzte man ihn ins Koma.

Foto: Monika Schulz-Fieguth
Gerhard Villbrandt , 69
Technischer Angestellter
Gestorben am 11. Januar 2021
Ein lakonischer Humor machte ihn aus.

Berlin lag noch in Trümmern, als Gerhard Villbrandt erst in der Mommsenstraße in Charlottenburg und später in der Handwerkersiedlung in Neukölln aufwuchs. In den 1960ern machte er eine Ausbildung zum Techniker bei Siemens. Damals waren die Kriegsschäden weitgehend beseitigt, und Westberlin bekam nach und nach seine Wahrzeichen zurück, wie die Deutsche Oper. Gerhard Villbrandt verlegte dort Kabel. Als er sich an eine Säule lehnen wollte, gab die nach, und er stellte fest: Die Säulen in der Oper sind nur Attrappen.

So erzählte es Gerhard Villbrandt später mit lakonischem Humor, der ihn ausmachte. In den 1970ern wechselte er vom größten Industrie-Unternehmen Westberlins in eine Kleinstfirma für IT. Sie bestand aus zwei Gründern und Villbrandt als ihrem ersten Angestellten. Die Rechner füllten damals ganze Zimmer. Villbrandts Aufgabe war es, sie zu warten. 40 Jahre hat er in der Firma gearbeitet. Obwohl sie mit der Zeit gewachsen war, empfand er sie als familiär. Hier hat er seine zweite Frau kennengelernt und viele seiner Freunde.

Auf die Rente hat er sich trotzdem gefreut. Ihm hat es immer gefallen, zu verreisen. Seine Frau und er hatten ein Faible für Inseln: von den Azoren bis Sylt. Seinen neuen Lebensabschnitt begingen sie aber mit einer Schiffsreise zur russischen Grenze, um das Nordlicht zu sehen. Nicht lange nach seinem 66. Geburtstag erlitt Gerhard Villbrandt einen schweren Herzinfarkt. Ihm wurde ein Kunstherz eingesetzt. Trotzdem ging es ihm sehr schlecht. Über zwei Jahre verbrachte er permanent im Krankenhaus.

Das letzte Jahr oft allein, denn seine Frau durfte ihn zeitweise gar nicht besuchen. Er bekam Infekte, Lungenentzündungen, Sepsen, steckte sich mit Krankenhauskeimen an und schließlich mit Corona. Ein Mitpatient hatte vor der Klinik seine Familie getroffen und das Virus auf die Station gebracht. Gerhard Villbrandt hat entschieden, sich nicht künstlich beatmen zu lassen. Wollte er nach langer Zeit des Leidens, permanenter Fremdbestimmung wieder „Herr über sein Leben“ sein? Als seine Frau ihn am 10. Januar nach sechs Wochen Zwangspause wieder besuchen durfte, war er bereits nicht mehr ansprechbar. Am Tag darauf ist er gestorben.

Foto: privat
Birgitt Dabrowski, 78
Kaufmännische Angestellte
Gestorben am 6. Januar 2021
Mitten im Trubel, da stand sie gern. Es schien, als ginge es für sie immer weiter.

Für eine ausgelassene Feier war Birgitt Dabrowski immer zu haben. Sie organisierte Familienfeste, lud Kollegen zu sich ein, traf sich mit Freundinnen zum Skip-Bo-Spielen. Wo sie auch hinkam, versprühte sie Lebensfreude. Auch ihren Mann hatte sie mitten im Trubel kennen gelernt, auf der Steglitzer Festwoche. Sie wurde schwanger, heiratete und ihre Tochter kam zur Welt. Das war 1959, Birgitt war gerade 17 Jahre alt. Ihre Ehe hielt ein Leben lang.

In der Rente waren sie und ihr Mann oft monatelang mit dem Wohnwagen unterwegs. Bis seine Gesundheit nicht mehr mitmachte. Sie stellten den Wohnwagen in der Ostprignitz ab, nicht weit von Birgitts Geburtsort Wittstock an der Dosse, und verbrachten fortan die Sommerhälfte des Jahres dort. „Unser Urlaubsleben“ nannte Birgitt das. Im Sommer 2019 feierte das Paar Diamantene Hochzeit, elf Monate später starb er. Birgitt trauerte, doch sie zerbrach nicht. Beherzt nahm sie sich den Papierkram vor, kümmerte sich um Versicherungen und Krankenhausrechnungen. Mit Zahlen wusste sie umzugehen, strukturiert arbeiten konnte sie – das hatte sie in ihrem Berufsleben als Kaufmännische Angestellte gelernt.

In ihrer Wohnung in Lichtenrade leistete ihr im Lockdown ein Wellensittich Gesellschaft. Er war ihr zugeflogen und sie hatte ihn kurzerhand aufgenommen, wie sie alles annahm, was das Leben für sie parat hielt. In schweren Zeiten war sie für andere da. Es schien, als ginge es für Birgitt immer weiter.

Auch als der Tumor in ihrer Lunge auftauchte. Eigentlich hatte sie die Operation gut überstanden. Sie schien fröhlich, als ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sie im Dezember 2020 aus dem Krankenhaus abholten. Dann kam der Anruf aus der Klinik: Ihre Bettnachbarin sei positiv auf Corona getestet worden. Kurze Zeit später bekam Birgitt keine Luft mehr. Drei Tage lang kämpfte sie gegen das Virus, wollte leben. Aus der Klinik videotelefonierte sie am 6. Januar mit ihrer Tochter. Birgitt rang um Luft und jedes Wort: Auf ihrem Grab wolle sie die gleichen Blumen wie ihr Mann, sagte sie.

Foto: privat
Adelheid Pohlmann, 69
Lehrerin
Gestorben am 6. Januar 2021
Ihren drei Töchtern vermittelte sie: Für alles, was man erreichen will, gibt es einen Weg.

Wenn sie begann, kleine Skizzen anzufertigen, war Adelheid im Urlaub angekommen. Die Skizzen wurden zu Aquarellen, viele kleine Quadrate, arrangiert auf Postkarten, die sie an ihre Lieben verschickte. Sie fuhren oft nach Hiddensee, die ganze Familie. Nein, sie fuhren nicht, sie segelten! Es war das liebste Hobby ihres Mannes Klaus, das Adelheid lächelnd mittrug – solange die Wellen auf der Ostsee nicht zu hochschlugen.

Dabei war sie sonst nicht zimperlich. Auf den ersten Blick manchmal ruppig, doch sehr liebevoll. Adelheid wuchs im kleinen Örtchen Gohfeld in Nordrhein-Westfalen auf, sie war das vierte von sechs Kindern, die dritte Tochter und die drittjüngste. Mit ihrer Bande streifte sie durch die Gegend, lauter Quatsch im Kopf. Einmal legten sie Feuer.

Nach dem Gymnasium wurde sie Grundschullehrerin, studierte erst in Essen, dann in Berlin, wo schon ältere Geschwister lebten. Als die Beziehung zu ihrem Freund zerbrach, zog sie mit dessen Kommilitonen in eine WG. 1978 heirateten die beiden, da war die dritte Mitbewohnerin längst ausgezogen.

Drei Töchter bekamen Adelheid und Klaus. Töchter, denen sie achtsam viel Zeit widmete: Mit jeder fuhr sie mal alleine in den Urlaub. Töchter, denen sie vermittelte: Für alles, was man erreichen will, gibt es einen Weg. Sie bewies das jeden Tag, war in der Nachbarschaft engagiert, bis zuletzt Sprecherin des Stadtteil-Forums Tiergarten-Süd. Im Corona-Jahr 2020 initiierte sie eine temporäre Spielstraße, die sie beabsichtigte künftig regelmäßig einzurichten.

In den vergangenen Monaten hatte sie das Homeschooling der Enkeltochter Martha übernommen. Und das der syrischen Drillinge gleich mit, die mit ihren Eltern eine Wohnung im Haus der Familie bezogen hatten – natürlich auf Adelheids Betreiben hin. Sie sang im Chor und ausdauernd mit den Enkelkindern. Sie liebte und pflegte ihren üppig bewachsenen Balkon. Sie war fit: eine Stunde Gymnastik jeden Morgen, schon immer! Kurz vor Weihnachten war ihr Corona-Test positiv, danach ging alles ganz schnell.

Foto: Detlev Schneider
Manfred Genswein, 80
Dreher
Gestorben am 6. Januar 2021
Er war still und vorsichtig, aber freundlich zu allen.

Er wäre so gern noch einmal zurückgekehrt, um den geliebten Schwarzwald zu sehen. Zum 80. Geburtstag im Mai 2020 war die Reise geplant, Fahrt mit der Eisenbahn inklusive. Aber dann kam ja schon Covid-19. Den 81. Geburtstag konnte Manfred Genswein nicht mehr feiern, nicht einmal im kleinen Kreis.

Manfred Genswein war der Älteste von neun Geschwistern, geboren und aufgewachsen in Tiengen, Südbaden; ein Dorfkind, der Bauernhof sein Abenteuerspielplatz; das Leben trotzdem hart und arbeitsreich. Und dann kam er wegen des Berufes nach Berlin und lebte viele Jahrzehnte mit der Familie im Reinickendorfer Ortsteil Wittenau, Senftenberger Ring.

Eigentlich war Manfred Genswein gelernter Schmied, doch als junger Auszubildender bekam er Tuberkulose, musste viele Monate ins Krankenhaus und umschulen, weil der Staub beim Schmieden nicht gut gewesen wäre für seine Lunge. So wurde er Betriebsschlosser und Dreher und überhaupt ein Mann für alle handwerklichen Fälle, sogar mal in einem großen Atomkraftwerk. Beide, auch die Frau Annemarie, arbeiteten bei Siemens und sehr viel, das Geld war immer knapp. Und doch versuchten sie, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Immerhin der Handball des Sohnes war eine Chance, am Wochenende kostbare Zeit zusammen zu verbringen, denn in der Woche ließ das der ständige Schichtdienst, auch nachts wurde gearbeitet, nicht zu.

Später engagierte sich Manfred Genswein mit seiner Frau ehrenamtlich im Frauenfußball beim 1. FC Lübars. Sie reisten wenigstens zweimal mit einem Kreuzfahrtschiff durchs Mittelmeer. Doch als die Rente von Annemarie begann, platzte eine Arterie im Kopf, sieben Jahre lang lag sie im Wachkoma, und Manfred versuchte, bei ihr zu sein, sie zu pflegen – bis sie starb. Da schien auch sein eigener Lebensmut aufgebraucht.

Als er zu Weihnachten wegen Herzproblemen ins Humboldt-Krankenhaus in Tegel kam, wütete dort schon eine Mutante. Vielleicht hat er am Ende an den Schwarzwald gedacht, er wäre ganz bestimmt lieber in der Heimat gestorben.

Foto: privat
Siegrun Dorothea Schmid, 57
Krankenschwester
Gestorben am 3. Januar 2021
Als ihr Arbeitsplatz zur Corona-Station wurde, umsorgte sie die Patienten so liebevoll, wie es ihr mit all den Schutzmaßnahmen möglich war.

Im Alter von fünf Jahren war ihr schon völlig klar: Ich werde mal Kinderkrankenschwester. Und so kam es. Geboren in Storkow, aufgewachsen mit vier Brüdern, machte sie ihre Ausbildung im Kloster Lehnin, sammelte erste Erfahrungen im Lutherstift in Frankfurt an der Oder und begann 1987 in der Pankower Klinik Maria Heimsuchung zu arbeiten.

Sechs Jahre später wurde die erste ihrer drei Töchter geboren. Siegrun arbeitete fortan halbtags. Es war eine bewusste Entscheidung, um mehr Zeit mit ihrer Familie und zum Backen, Nähen, Malern, Basteln und Werken zu haben. Kaum ein Möbelstück in ihrem Haus, das sie nicht selbst gebaut hat. Vieles gab es so nirgends zu kaufen, das musste selbst gezimmert werden. Auch die Kulissen und Kostüme für’s Laientheater wurden von ihr gefertigt. Auf die Art hat sich Siegrun überall verewigt. Immer war sie für andere da, ungefragt, ohne Dank zu erwarten.

Zum Sonntagsdienst brachte sie den Kollegen selbst gebackenen Käsekuchen mit. Wünschte ein Patient nachts noch einen Tee, kochte sie ihn selbstverständlich. Denn sie wollte, wäre sie krank, auch so behandelt werden.

Als ihr Arbeitsplatz zur Corona-Station wurde, umsorgte sie die Patienten so liebevoll, wie es ihr mit all den Schutzmaßnahmen möglich war. Wäre sie aus dem wochenlangen künstlichen Koma erwacht und genesen, sie wäre umgehend zur Arbeit zurückgekehrt, ganz sicher.

An ihrem 58. Geburtstag wurde Siegrun Schmid beerdigt.

Foto: privat
Gabriele Linke, 68
Fernsehregisseurin
Gestorben am 2. Januar 2021
Sie besaß Seelenruhe, konnte den Alltag veredeln. Ein Lebensgeschenk.

Ihre Mutter wollte ein Kind mit braunen Augen, sie war nahezu besessen davon. Sie, eine heimatvertriebene Sprechstundenhilfe, der Vater, ein Mechaniker, hatten blaue, auch Gabrieles eineinhalb Jahre später geborene Schwester. Und wer kam am 28. Oktober 1952 in Greifswald auf die Welt? Ein Mädchen mit braunen Augen. Ab dem Moment, wo aus dem Mädchen eine Frau geworden war, die sich die Haare blond färbte, „war sie immer eine sehr helle Erscheinung“, so sagt es ihre Tochter. Dazu die braunen Augen, die „ihr Tiefe verliehen“.

Als Gabriele neun war, zog die Familie nach Görlitz. Das Mädchen interessierte sich fürs Malen, war Mitglied im Pioniertheater, bekam die Möglichkeit, auf die Erweiterte Oberschule zu gehen und das Abitur zu machen. Gabriele war die erste in der Familie, die studieren durfte, und dann auch noch Regie an der Babelsberger Filmhochschule. Im Wehrerziehungslager lernte sie einen Mann kennen, die Tochter kam 1975 auf die Welt, die Familie folgte der Alleinerziehenden nach Berlin und bekam eine Wohnung in Lichtenberg, an der Frankfurter Allee. Gabriele fing beim Bildungsfernsehen in Adlershof an, kam zu „Aha“, einem Populärwissenschaftsmagazin. Sah beruflich einen Abba-Auftritt, lernte Heiner Müller kennen, arbeitete mit Rolf Ludwig zusammen, Corinna Harfouch, Eberhard Esche. „Das ganze Leben ist Recherche“, sagte sie oft zu ihrer Tochter.

Einmal in den 80er Jahren, Gabriele war zum Drehen im Elbsandsteingebirge, fiel ein Satz von ihr, gerichtet an einen Bergsteiger: „Oh Gott, fallen Sie bloß nicht runter.“ Oh Gott. Der sollte rausgeschnitten werden. Sie solle gefälligst aufpassen, drohte ihr Chef. Die mittlerweile gemeinsam mit der Tochter bezogene kleine Wohnung in der Friedrichshainer Bänschstraße wurde wichtiger, ihr Refugium. „Meine Mutter konnte Dinge veredeln“, sie hat einen ordinären Zeitungsständer vergoldet, so dass er plötzlich wunderschön aussah. Dann kam ’89. Der 4. November, die Riesenkundgebung auf dem Alexanderplatz, in der U-Bahn dorthin, so hat Gabriele Bent, das ist ihr Geburtsname, es beschrieben, habe sie „noch nie so viele schöne Gesichter gesehen“. Am 9. November traf sie ihren späteren Mann, Günter Linke, am Checkpoint Charlie. Acht Jahre später wurden sie ein Paar.

Gabriele baute nach der Zerschlagung des DDR-Fernsehens den Landessender Brandenburg mit auf, es kam der Punkt, an dem sie keine Festanstellung bekam, mit einer pubertierenden Tochter auf der Straße stand. Vom Arbeitsamt eine Umschulung zur Fremdsprachensekretärin erhielt. „Okay, Recherche.“ Auf den Bildern von ihr aus dieser Zeit ist zu sehen, dass sie hart gewesen sein muss. Dann, ein Praktikum beim Sender Freies Berlin. Studioregie. Seelenruhe strahlte sie aus, berichten die Kollegen, bei der „Abendschau“, bei Liveübertragungen, bei Sendungen, die es nicht mehr gibt.

Nach einem Dienst bei der „Abendschau“ setzt sie sich am Bahnhof Zoo in einen Nachtzug, nach Paris. Nach Paris! Die Tochter besuchen. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt die, „ein Mädchen aus Greifswald.“ Gabriele Linke kam ins Krankenhaus, viele Jahre später war das, im Dezember 2020. Sie dachte, sie habe etwas mit der Galle. Sie hatte Schüttelfrost und Fieber.

Foto: privat
Aline Laaser, 28
Studentin
Gestorben am 26. Dezember 2020
Sie liebte Japan, die Kunst, die Kirschblüte. Ihr sehnlichster Wunsch: zurückzukehren in dieses Land.

Vor Corona hatte sie von Anfang an Angst. Hatte als Kind unter Asthma gelitten und wusste, was es bedeutete, keine Luft mehr zu bekommen. Wenn sie zum Job fuhr, mied sie die Öffentlichen Verkehrsmittel, nahm das Rad, und nicht selten trug sie zwei Atemschutzmasken übereinander. Kam sie doch mal ihre Mama besuchen, verzichteten sie auf die Umarmung und streichelten einander stattdessen mit einer „Rücken-Massage-Hand“ am Stab. Die Corona-Warn-App hatten ihr Freund und sie sich sofort heruntergeladen. Sie schlug nicht aus.

Aline Laaser hatte viel Kontakt zu anderen Menschen, denn sie räumte Regale ein bei Kaufland, um ihr Studium zu finanzieren: Japanologie an der Freien Universität. Schon früh war da diese Faszination gewesen: für die Kultur, für Bonsaigärten, für die Kirschblüte. Aline mochte Mangas, sie sang im Chor der Deutsch-Japanischen Gesellschaft, dem „Vokalensemble Sakura“. Ihr Freund verbrachte in Japan sein Auslandssemester, sie begleitete ihn vier Wochen lang. Seitdem war es ihr sehnlichster Wunsch, zurückzukehren in dieses Land.

So viel Lebenslust ging von ihr aus, sagt ihre Mutter, sagen ihre Freunde. Gesellig, abenteuerlustig, kreativ, musikalisch, hilfsbereit, all das war Aline. Selbst die älteren Geschwister ließen sich am liebsten trösten von ihr. Kein Ferienlager, in dem die Kinder, die Aline betreute, sie nicht umringten, kein Festival, das sie nicht rockte. Und vor jeder Geburtstagsfeier, jeder Hochzeit baten die anderen: Backst du uns eine deiner Torten, kunstvoll verziert?

Aline liebte Walt Disneys Zeichentrickfilme, allen voran „Mulan“. Als sie im Koma lag, haben sie ihr Disney-Lieder vorgespielt, „Mulans Verwandlung“, „Willst du einen Schneemann bauen?“, „Hakuna Matata“. Und später dann, auf ihrer Beerdigung.

Mit Fieber ging es los, zuletzt lag sie in der Charité, zwei Lungenentzündungen, Nierenversagen, Sepsis, alle Ärzte kämpften, es war Weihnachten, der Kreislauf brach zusammen, die Leber zerfiel. Am ersten Weihnachtstag blieb ihr Herz stehen. Warum die Erkrankung bei ihr einen so schweren Verlauf nahm? Sie untersuchen es noch. Ihr Freund saß in der gemeinsamen Wohnung in Quarantäne, seine Mutter rief ihn aus dem Krankenzimmer per Video an, damit er Abschied nehmen könne – ich schaffe das nicht, sagte er, ich bin doch hier allein. Jetzt besucht er das Grab auf dem St. Hedwig-Friedhof. In der Nähe wächst ein Kirschbaum. Aline wurde 28 Jahre alt.

Foto: privat
Christel Rothbarth, 85
Technische Zeichnerin
Gestorben am 25. Dezember 2020
Ihre Augen verrieten allen: Bei mir bist du willkommen. Schlechte Laune war ihr fremd, und sie mochte die Menschen.

Krank war sie eigentlich so gut wie nie in ihrem Leben. Nur am Anfang und am Ende. Nach der Geburt machte ihr eine schwere Hautkrankheit zu schaffen, dann kam auch schon bald der Krieg – und beides prägte sie, aber in einem ganz bestimmten Sinne, wie es ihr Bruder Klaus erzählt: Sie habe ein Gottvertrauen entwickelt, dass die Dinge sich schon zum Guten wenden. Sie habe so viel Schlimmes am Anfang erlebt, sodass sie überzeugt war, es könne sie nichts mehr erschüttern.

Sie genoss ihr Leben und ihren Beruf als Technische Zeichnerin, sie ging offen auf die Menschen zu und zeigte ihnen: Du bist willkommen. Sie war ledig, aber nie allein, sondern immer in ihrer Familie.

Alle, die sie kannten, mochten sie, sogar die Handwerker, die die Wohnungseigentümergemeinschaft manchmal beauftragte: „Ohne Frau Rothbarth geht hier gar nichts“, sagten sie. Und auch die Kollegen des Bruders mochten sie, freuten sich immer, eingeladen zu sein zum berühmten Putensonntag der Familie am 7. Januar, dem Geburtstag von Bruder Klaus, wenn Christel für alle die beste Pute der Welt aus dem Ofen zauberte.

Geboren und aufgewachsen ist sie in Charlottenburg, und hier wohnte sie auch ihr ganzes Leben, las täglich und intensiv den Tagesspiegel, schnitt eifrig und akribisch Artikel und Texte aus, die sie sammelte und die sich in Kisten stapelten. Sie sang im Berliner Oratorien-Chor, hatte große Auftritte in der Philharmonie, reiste mit dem Chor oder Freunden, aber der Mittelpunkt des Lebens war die große Wohnung in Charlottenburg, in der die Großfamilie oft zusammenkam.

Im November musste sie ins Krankenhaus, weil die Hüfte gebrochen war. Sie überstand die Operation, machte Reha. Dann brachte eine Patientin das Virus mit ins Doppelzimmer. Christel Rothbarth starb am ersten Weihnachtsfeiertag.

Foto: privat
Irmgard Gürtler, 81
Kita-Köchin
Gestorben am 25. Dezember 2020
Die Laube in Charlottenburg war ihr Lebensmittelpunkt: Gemüse, Tanz, Canaster!

Irmgard Gürtler spielte gern, leidenschaftlich, am liebsten Canasta. Regelmäßig traf sie sich mit ihrer Runde in der Gartenkolonie Freiland. Überhaupt, die Laube in Charlottenburg, sie war ihr Lebensmittelpunkt. Dort wurde zum Tanz aufgespielt, an Pfingsten zum Beispiel, dort hegte sie beinahe 60 Jahre lang mit ihrem Mann Dieter den Garten. Tochter Monika ist groß geworden mit Gemüseeintopf. Kartoffeln, Mohrrüben, grüne Bohnen: alles, was der Garten hergab. Dazu gab es Apfelsaft aus eigenen Früchten. Sogar eine Art Wein stellten ihre Eltern daraus her in großen Glasballons.

Es war ein schönes Leben, das in schwieriger Zeit begann. Irmgard Gürtler wurde 1939 geboren, in Tussainen, einem kleinen Dorf in Ostpreußen, am Fluss Memel. Vier Monate später begann der Krieg, sechs Jahre später mussten sie dort weg, für immer. Irmgard Gürtler hat nicht viel davon erzählt. Sie fand ein neues Leben in Berlin, wurde Schwesternschülerin. Dieter und sie zogen in eine kleine Wohnung in Schöneberg. Dass Irmgard als Krankenschwester gearbeitet hat, daran kann sich die Tochter gar nicht erinnern. Eigentlich sei die Mutter immer für sie und ihren Bruder da gewesen.

Jedes Jahr fuhren sie mit ihrem Wohnwagen nach Dänemark auf einen Campingplatz an der Nordseeküste mit eigenem Angelteich. Natürlich briet Irmgard ihren Fang selbst. Mit Dieter reiste sie nach Thailand, nach Mexiko, in die USA.

Nach einer Knieoperation, der viele weitere folgten, heilte ihr mit einem Keim infiziertes Bein nicht mehr. Dieter pflegte sie aufopferungsvoll. Bis er sich einen Leistenbruch zuzog und selbst ins Krankenhaus musste.

Irmgard Gürtler musste in Kurzzeitpflege, dort infizierte sie sich mit Covid-19. Als sie schon zu schwach war zum Telefonieren, fragten die Kinder, ob sie ihre Mutter noch einmal sehen dürften. Leider nein. Irmgard Gürtler starb allein im Krankenhaus, an Weihnachten.

Foto: privat
Horst Jänichen, 89
Referatsleiter
Gestorben am 24. Dezember 2020
Zehn Jahre lang saß er im Gefängnis. Der Aufarbeitung der DDR-Diktatur galt sein Engagement.

Horst Jänichen war 15 Jahre alt, als er 1946 wegen „Widerstands gegen die sowjetische Besatzungsmacht“ im sogenannten Speziallager Nr. 3 in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde. Nach seiner Entlassung im Juli 1948 blieb er weiter ein Oppositioneller, engagierte sich in der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, im Dezember 1950 wurde er erneut festgenommen. Wegen „Verbreitung tendenziöser Gerüchte“ verurteilte man ihn zu acht Jahren Freiheitsstrafe, die er vollständig absitzen musste.

Nach seiner Entlassung im Januar 1959 floh er nach West-Berlin, engagierte sich in der SPD, vertrat die Partei als Parlametarier im Abgeordnetenhaus und in der Bezirksverordnetenversammlung im Bezirk Tiergarten. Seit 1973 arbeitete er in der Pressestelle des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen, 1989 wurde er Referatsleiter im Bundesministerium des Inneren. Er verließ seine Partei im Protest, als sie im wiedervereinigten Berlin eine Koalition mit der Nachfolgerin der SED einging.

Der Aufarbeitung der DDR-Diktatur galt Horst Jänichens Engagement, zu Beginn der 90er Jahre setzte er sich dafür ein, dass aus dem Hohenschönhausener Stasi-Gefängnis, in dem er in seinen jungen Jahren eingesperrt war, eine Gedenkstätte wurde. Später – und zwei Jahrzehnte lang – führte er Besuchergruppen durch das Haus.

Mucksmäuschenstill, so erinnern seine einstigen Gedenkstättenkollegen in einem Nachruf an ihn, seien Besucherinnen und Besucher während seiner Führungen gewesen. „Besonders gut konnte er durch die Erzählungen über sein Schicksal die jungen Erwachsenen erreichen. Auch weil er in ihrem Alter ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes geriet.“ Heiligabend ist Horst Jänichen gestorben.

Foto: Dirk Vogel
Hiltrud Ursula Rufer, 87
Chemisch-technische Assistentin
Gestorben am 21. Dezember 2020
Auf den ersten Blick unterschied sie sich nicht sehr von anderen Zehlendorfer Hausfrauen. Doch sie behielt ihre unkonventionellen Seiten.

Die Mauer war gerade gebaut, als Ursula Rufer nach West-Berlin kam. Anfangs fremdelte sie mit der Stadt. Sie stammte aus Kassel. Als chemisch-technische Assistentin arbeitete sie später in Köln und in München. Es müssen „wilde Jahre“ gewesen sein, wie eine ihrer Töchter amüsiert erzählt, nachdem sie alte Fotoalben gesichtet hat: Ursula Rufer tanzte mit hoch fliegendem Rock im Karneval oder posierte inmitten von jungen Männern im Italien-Urlaub.

Die Tochter hat sie anders in Erinnerung. Als starke, tatkräftige, gläubige Frau. Ihren Beruf gab Ursula Rufer auf, nachdem sie geheiratet hatte. Auf den ersten Blick unterschied sie sich nicht sehr von anderen Zehlendorfer Hausfrauen. Doch sie behielt ihre unkonventionellen Seiten – schlief gerne lang, störte sich wenig an Unordnung, und hörte regelmäßig eine Radio-Sendung, in der Haustiere verschenkt wurden.

Manchmal sagte sie dann zu ihren Kindern: „Wie wär‘s?“ Bald hielt sie zwei Wüstenspringmäuse, einen Klein-Papagei und 36 Kaninchen, die frei im Garten umherliefen. Ihre vier Kinder teilte sie zum täglich wechselnden Einfangdienst ein, denn abends mussten die Tiere in den Stall. Als ihr Mann darauf drängte, den Kaninchen-Bestand zu reduzieren, vermittelte Ursula zwei Stück an eine Diplomaten-Familie in Ost-Berlin. Der Vater des Mädchens musste die Kaninchen über den Checkpoint-Charlie in die DDR schmuggeln.

Als die Kinder groß waren, übernahm Ursula Rufer Nachtschichten bei der Telefonseelsorge am Bahnhof Zoo. Später gab sie im Obdachlosen-Treff der Berliner Stadt-Mission an der Joachim-Friedrich-Straße Essen aus. Ihre zweiälteste Tochter erinnert sich, wie sie die Mutter dort einmal abgeholt hat: eine 1,60-Meter kleine, ältere Dame zwischen lauter Männern.

Am 10. Dezember 2020 wurde Ursula Rufer in dem Seniorenheim, in dem sie zuletzt wohnte, positiv auf Corona getestet. Ihre Kinder durften sie nicht besuchen. Am 21. Dezember starb sie, alleine auf ihrem Zimmer.

Foto: privat
Walli Jahn, 90
Büroangestellte
Gestorben am 21. Dezember 2020
Eine Oma, wie man sie sich nur wünschen konnte. Und wie herzlich sie gelacht hat!

Das Kochen war Walli Jahns Leidenschaft. Keine, sagt ihre Enkeltochter, kriegte den Grüne-Bohnen-Eintopf so gut hin wie Walli Jahn, sie machte ihn mit Kasseler und einem Schuss saurer Sahne.

Überhaupt war Walli Jahn eine Oma, wie sie man sich nur wünschen konnte, zu allen lieb, und wie herzhaft sie gelacht hat! Walli arbeitete im Büro der Handelsorganisation HO in Eisenhüttenstadt. Der Tischler Hubert Jahn war die Liebe ihres Lebens. 60 Jahre waren die beiden verheiratet, konnten die Diamantene Hochzeit noch feiern, es wurde ihr letztes gemeinsames Fest.

Nach Huberts Tod kam Walli Jahn allein nicht mehr so gut zurecht, die Kinder holten sie 2015 nach Berlin. Mit 85 zog sie in eine Wohngemeinschaft für Demenzkranke. In der neuen Welt richtete sie sich gut ein, wirkte glücklich. Als sie sich mit Corona infizierte, ging es ganz schnell. Das Rezept für ihre Bohnensuppe konnte sie mit niemandem mehr teilen.

Foto: privat
Norbert Lachmann, 88
Elektromeister
Gestorben am 20. Dezember 2020
Als Kind floh er mit seinen jüdischen Eltern nach Argentinien.

Norbert Lachmanns Eltern sind jüdischen Glaubens, 1936 tut die Familie schweren Herzens, wozu viele andere sich zu spät entschließen: sie verlässt Berlin und wandert nach Argentinien aus. Norbert wächst in Buenos Aires auf, 1957 lernt er dort seine Frau kennen, zwei Jahre später heiraten sie. Nach zwei weiteren Jahren wird ihr Sohn Robert geboren.

Sie haben überlebt, es geht ihnen gut. Die Sehnsucht nach der Heimat aber bleibt – und bewegt 1963 schließlich nunmehr drei Generationen Lachmanns, nach Deutschland zurückzukehren.

Schnell wurzeln sie wieder, und bald wächst blühend ein neues Glück: Norbert und seine Frau sind leidenschaftliche Kleingärtner. Bis sie 2014 stirbt.

Wegen einer Parkinson-Erkrankung muss er in ein Pflegeheim einziehen, wo er sich nachweislich mit dem Corona-Virus infiziert. Norbert Lachmann stirbt am 20. Dezember.

Foto: Robert Lachmann
Regina Schmidt-Neßweber , 77
Friseurin
Gestorben am 20. Dezember 2020
Sie war keine Plaudertasche, aber sie hatte eine schöne dunkle Stimme, die wunderbar berlinernd „meene Kleene“ sagen konnte zur Nachbarin.

Wenn Regina Schmidt-Neßweber auf ihrem Balkon saß, konnte sie durch die Geranien den Fernsehturm blinken sehen. Im Sommer 2019 kamen Bauarbeiter und fingen an, am Rand des S-Bahngrabens ein Fundament auszuheben. Erst verschwand die S-Bahn aus dem Blickfeld, dann das Planetarium, dann der Fernsehturm. Schließlich verschwand auch Regina Schmidt-Neßweber.

Geboren worden war sie 1943 in Berlin-Kreuzberg als Regina Neßweber. Als sie 1990, nach zwanzig Jahren Bekanntschaft, ihren Mann heiratete, bestand sie auf dem Doppelnamen. Sie wollte nicht, dass der Name ihres Vaters ausgelöscht wurde. Sie hatte ihn nie kennengelernt, er zeugte sie, ging in den Krieg zurück und blieb vermisst. Sie wuchs im Luftschutzkeller auf, bis die Mutter mit ihr aus der zerstörten Innenstadt nach Wilhelmsruh zum Großvater zog.

Nach der Schule lernte sie Friseurin und verliebte sich in ihren dreißig Jahre älteren Kollegen Schmidt. Sie zogen zusammen, in einen Altneubau, wie es damals hieß, in Prenzlauer Berg. 50 Jahre blieb sie dort, ihr Mann starb 2011 mit 97 Jahren. Anfangs konnten sie die Fenster nicht öffnen, weil der Dreck des Gaswerks sich in alle Ritzen setzte. Als die Gasometer im Juli 1984 gesprengt wurden, waren sie im Garten in Müggelheim, wie immer im Sommer. Von dort fuhr sie jeden Morgen in den Salon Dorit in der Greifenhagener Straße.

Bis zuletzt machte sie sich jeden Tag schön, auch wenn es außer ihr niemand sah. Ihre Haare erinnerten an Zuckerwatte. Sie war keine Plaudertasche, aber sie hatte eine schöne dunkle Stimme, die wunderbar berlinernd „meene Kleene“ sagen konnte zur Nachbarin.

Der Lockdown im Frühjahr 2020 machte ihr nichts aus, sie kam sowieso nicht mehr raus. Im Sommer wurde sie schwächer und schwächer, bis der Tag kam, als sie den Rettungswagen holen musste. Vom Krankenhaus kam sie ins Pflegeheim. Im Dezember steckte sie sich dort mit Covid-19 an und starb zwei Wochen später.

Foto: privat
Christel Kambach, 78
Bürokauffrau
Gestorben am 19. Dezember 2020
Diszipliniert, sparsam, bescheiden, so lebte sie und liebte es, im Kreise der Familie zu sein.

Als sie im November 2020 ins Humboldt-Krankenhaus kam, war der Verdacht nicht Corona, sondern Parkinson. Die Diagnose war schlimm: Eine Form der Krankheit, die einhergeht mit einer schweren und schnell verlaufenden Demenz. Christel Kambach war ihr ganzes Leben sehr selten krank, ihr Herz und ihre Lungen funktionierten gut. Mit der Diagnose atypisches Parkinsonsyndrom wurde sie entlassen. Was man aus Stress vergessen hatte, ihr und den Angehörigen zu sagen: Der Corona-Test war positiv.

Drei Tage später und nach einem Sturz zu Hause musste sie zurück in die Klinik. Dieses Mal auf die Corona-Isolierstation. Sie starb kurz vor Weihnachten.

In Reinickendorf, wo sie starb, war sie auch geboren worden. Aufgewachsen am Kurt-Schumacher-Platz, wo der Vater eine eigene Fleischerei besaß, als der Flughafen Tegel, der jetzt geschlossen wurde, noch gar nicht existierte. Christel Kambach machte Abitur auf dem Bertha-von Suttner-Gymnasium, wo auch der Sohn später zur Schule ging. Sie lernte gern, und sie war gut, als Bürokauffrau in verschiedenen Firmen arbeitete sie immer eng mit der Geschäftsführung zusammen. Disziplin und Sparsamkeit waren Eigenschaften, die sie lebte, auch Bescheidenheit, obwohl sie materiell keine Sorgen hatte, weil sie das Erbe ihrer Mutter klug vermehrte. Sie konnte aus einem Euro immer zwei machen.

Familie war ihr wichtig, vor allem die geselligen Feiern, Grillnachmittage, später mit einem schönen Gläschen Wein beisammensitzen. Das hat sie gemocht, den Enkeln beim Spielen zu sehen, aufgehoben sein im Kreis der Lieben. Sie war beim ersten Kontakt vielleicht ein wenig distanziert, aber sie mochte es, Spaß zu haben. Zum Beispiel mit ihrer Wandergruppe oder den Frauen, die sie bei ihrer traditionellen Wellnesswoche in Bad Harzburg kennenlernte. Sie war auch sportlich, und sie lernte spanisch an der Volkshochschule, weil sie fand, man müsse sich doch im Urlaub auch ein bisschen unterhalten können.

Und dann waren da noch ihre geliebten Katzen. In ihrem Testament hat sie für sie vorgesorgt.

Foto: privat
Erna Bitter, 97
Stenotypistin
Gestorben am 17. Dezember 2020
Noch mit 97 wollte sie der Einsamkeit im Heim etwas entgegensetzen, lernte, mit dem Tablet umzugehen und Videotelefonie.

Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen, das sagt sich so leicht. Aber mit 97? Sie tat es einfach, im Sommer lernte Erna Bitter den Umgang mit ihrem neuen Tablet, WhatsApp und Videotelefonie, denn so konnte sie am Bildschirm mit ihrer Familie in Kontakt bleiben. Mit den beiden Söhnen, den vier Enkeln und den drei Urenkeln. Konnte der Einsamkeit im Pflegeheim wenigstens auf diese Weise entkommen.

Schwere Zeiten – sie hat viele gesehen. Als junges Mädchen stritt sie mit ihrem Vater, weil der nicht wollte, dass sie dem Bund deutscher Mädel beitritt. Sie wollte dabei sein, wollte leben, ins Kino gehen, Johannes Heesters und Zarah Leander singen hören. Und musste mehr als einmal von Mitte zur Arbeit nach Lichtenberg laufen, weil nach den Bombenangriffen die Bahn nicht mehr fuhr. Am Ende brannte auch ihr Elternhaus in der Franzstraße, die es heute gar nicht mehr gibt, so wie das ganze Viertel unweit des Michaelkirchplatzes. Fortan drängte sie sich mit Mutter, Schwester, Bruder in einem Zimmer in der Urbanstraße.

Stenotypistin hatte sie gelernt, heute würde man wohl Bürokauffrau sagen. 1949 kam Herbert zurück aus der Gefangenschaft. Den kannte sie schon aus Friedenszeiten. Damals hatten sie nicht zusammengefunden, jetzt ja. 1952 kam der erste Sohn zur Welt, Erna hörte auf zu arbeiten, so war das damals. Kümmerte sich um die neue Wohnung in Tegel, mit Garten vor der Haustür. Kochte Königsberger Klopse und Buletten, buk Streuselkuchen, hatte Freunde und liebte die Geselligkeit in der Nachbarschaft. Herbert, der vor dem Krieg davon geträumt hatte, Maschinenbauingenieur zu werden, wurde Bewährungshelfer. Das reichte für einen bescheidenen Wohlstand.

Ein gebrauchter VW-Käfer, die erste Reise nach Dänemark, der zweite Sohn. Erna und Herbert entdeckten Südtirol, wohl 20 Mal fuhren sie dorthin. Als es mit dem Garten zu viel wurde, zogen sie in die Nähe der Kinder, nach Zehlendorf. Bald bedurfte Herbert ihrer Pflege. Als er starb, fühlte sie sich einsam, trotz der großen Familie. Sie willigte ein, in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen.

Im November kam Covid-19 ins Heim. Besucht werden dufte sie nicht mehr. Anfang Dezember berichtete Erna am Telefon, ihre Nachbarin sei positiv und sie selber habe jetzt diesen hartnäckigen Husten. Am 17. Dezember starb Erna Bitter im Krankenhaus. Ohne ein letztes Wiedersehen, ein letztes Videotelefonat.

Foto: privat
Soydan Arslan, 39
Lehrer
Gestorben am 17. Dezember 2020
Seine Schülerinnen und Schüler begleitete er mit großem Einsatz und aus voller Überzeugung, für sie als ihr Lehrer da sein zu wollen.

Soydan Arslan war Lehrer an der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule in Kreuzberg. Seine Schülerinnen und Schüler begleitete er mit großem Einsatz und aus voller Überzeugung, für sie als ihr Lehrer da sein zu wollen. Als Leiter im sogenannten Europa-Zweig unterrichtete er seine Klasse bilingual: Auf Deutsch und Türkisch. Ein Markenzeichen aber war es, dass er die Kollegen morgens mit einem gut gelaunten „Buongiorno!“ begrüßte. Ursprünglich hatte sich dieser Gruß auf einen italienischstämmigen Kollegen bezogen. Irgendwie verselbstständigte sich das.

Seine Fächer waren Deutsch, Türkisch und Ethik. Die anderen Lehrer schätzten ihn als hilfsbereit und zuverlässig, als professionellen Pädagogen. Für jedermann sichtbar war er, sagen sie, ein wunderbarer, ein liebevoller Mensch. Einer, der ermutigte und zum Lachen brachte, sich durch besondere Lebensfreude und Leichtigkeit auszeichnete, die er auch in schwierigen Situationen nicht verlor.

Er infizierte sich Anfang November mit dem Coronavirus. Zu dieser Zeit gab es bereits Schülerinnen und Schüler an der Schule, die positiv auf das Virus getestet worden waren. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Soydan Arslan im Dienst ansteckte. Schon wenige Tage nach den ersten Symptomen kam er ins Krankenhaus und dann schnell auf die Intensivstation. Ausgerechnet Soydan!, riefen die Kollegen. Machte er nicht immer den Eindruck, nichts und niemand könne ihn umhauen? Nach knapp vier Wochen hat Soydan Arslan am vorletzten Schultag vor den Weihnachtsferien den Kampf gegen die Folgen der Virusinfektion verloren. Er hinterlässt seine Ehefrau und zwei Kinder.

Die Kollegen sagen: Dieser Tod ist schwer zu fassen. „Wir sind unendlich bestürzt.“ Im Lehrerzimmer an der Kreuzberger Blücherstraße hat Soydan Arslan nach wie vor seinen Platz. „Wer seinen aufmerksamen Blick dorthin schweifen lässt“, sagt einer, „der sieht, wie Soydan unerkannt und fast unsichtbar sich umdreht und lebensbejahend sagt: ,Buongiorno, liebe Kollegin! Buongiorno, lieber Kollege!’“

Foto: privat
Manfred Otter, 83
Bauingenieur
Gestorben am 16. Dezember 2020
Er kalkulierte die Statik der Oberbaumbrücke und half beim Bau des Tunnels am Flughafen Tegel.

Wer Manfred Otter kannte, der kommt nicht umhin, sich in Berlin ständig an ihn zu erinnern. Auf dem Weg vorbei am Europa-Center zum Beispiel, bei dessen Grundsteinlegung er 1965 als junger Bauingenieur teilhatte. Er kalkulierte die Statik der Oberbaumbrücke und half beim Bau des Tunnels am Flughafen Tegel. Unter anderem.

Er hat sich in dieser Stadt verewigt, die zu seiner Heimat geworden war, als er knapp sechsjährig mit seiner Mutter aus dem Kreis Meseritz-Obrawalde, Provinz Posen, herzog.

Kurzzeitig ging er als junger Mann nach Köln, der Arbeit wegen. Er verliebte sich ins Rheinland – und später, da war er zurück an der Spree, in eine Rheinländerin. Sie zogen nach Charlottenburg, 1978 wurde ihre Tochter geboren, 1979 heirateten sie.

Die rheinische Fröhlichkeit exportierten sie nach Berlin, feierten, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Verkleideten sich aufwendig zum Karneval, den sie anfangs oft noch in Köln verbrachten: als Zahnpastatuben, als wildbunte Clowns. Neben seiner Arbeit liebte Manfred Fußball, Tennis Borussia insbesondere. Zu allem anderen musste man ihn ein bisschen schubsen: Kinobesuche, Ausgehen. Ein Hobby? Kein Interesse. Er war glücklich mit dem Leben, wie es war.

Die Demenz machte es nötig, dass er in ein Pflegeheim in der Nachbarschaft zog. Seine geliebten Spaziergänge durfte er weiterhin unternehmen – bis zum Lockdown. Da schlief Manfred ein. Dass er sich mit Corona infiziert hatte, wurde erst nach seinem Tod bekannt.

Foto: privat
Ingeborg Müller-Graf, 87
Buchhändlerin
Gestorben am 16. Dezember 2020
In der Welt kam sie bestens zurecht und wollte doch nie woanders leben als in Berlin.

Ihr Vater war leitender Direktor bei Mampe Halb und Halb, die Familie dafür von Koblenz nach Berlin gezogen, Ingeborg war schnell eine leidenschaftliche Berlinerin und wollte nie woanders leben. Dann begann der Krieg. Bei jedem Fliegerangriff musste sich Ingeborg im Schutzbunker übergeben, doch die traumatischeren Erlebnisse hatte sie auf dem Land, in Brandenburg, wo die Eltern sie besser behütet hofften. Nach dem Krieg siedelte die Familie bei Nacht und Nebel von Ost- nach Westberlin um.

Ingeborg machte ihr Abitur in der Luisenstiftung und ging für einige Monate nach Wales, woraus sich eine lebenslange englische Freundschaft ergab. Anschließend entschied sie sich für eine Lehre als Buchhändlerin und arbeitete bei Kiepert, in der großen Buchhandlung nahe der Technischen Universität. Dann, zwei einschneidende Erlebnisse, quasi zeitgleich: Ingeborg heiratete und um ihre Heimat wurde eine Mauer gebaut. Eine Tochter und ein Sohn wurden geboren. Ihnen und ihrem Mann Burkhard, der Diabetiker vom Typ 1 war, was damals weit größere Erschwernisse im Leben bedeutete als heute, galt fortan ihre ganze Energie.

Zu ihrer älteren Schwester Erika hatte sie Zeit ihres Lebens eine enge Bindung. Mit der Familie segelte sie auf der Havel. Ingeborg war willensstark und anpackend – Japan, Moskau, die USA: Sie wollte das sehen, also fuhren sie hin. Ihre zweite Heimat fand sie auf einem Bauernhof im Schwarzwald. Ingeborg fuhr das Auto selbst, auch lange Strecken, hatte es bereits mit 18 gelernt und kannte Berlins Straßen wie ein Taxifahrer. Sie sprach sehr gutes Englisch und schlug sich auch auf Französisch bestens durch Paris.

Als ihre drei Enkelinnen kamen, wurde sie eine liebevolle Großmutter. Zu einer Routineuntersuchung ging sie ins Krankenhaus. Das Virus, es wartete vermutlich dort. Nach zweieinhalb Wochen gab ihr Körper auf.

Foto: Christine Müller-Graf
Margot Zirpel, 83
Klavierlehrerin
Gestorben am 16. Dezember 2020
Sie zog mit ihrem Mann nach Bremen, Hannover, Kiel und Kopenhagen. Und kehrte wieder zurück.

Margot wird in Moabit als zweites von drei Kindern geboren. Der Vater Anton stirbt in den letzten Tagen des Krieges in den Kämpfen um Berlin. In den Wirtschaftswunderjahren heiratet sie, zieht mit ihrem Mann nach Bremen, dann Hannover, Kiel und schließlich Kopenhagen.

Sie bekommen drei Kinder, die in Kopenhagen bleiben werden, als die Eltern später zurück nach Deutschland gehen. Den Mauerfall erlebt sie in Berlin. Ihr Mann und sie genießen das Zusammensein mit Freunden, sind leidenschaftliche Gastgeber, Margot veranstaltet Musikabende mir Klavier, Cello und Geige. Bis sie an Demenz erkrankt. 2020 zieht sie in ein Pflegeheim in Zehlendorf.

Auf einem Foto, das ihr Sohn Martin im Oktober bei einem Spaziergang am Schlachtensee von seinen Eltern aufgenommen hat, sieht sie lebensfroh aus. Zwei Monate nach dem Einzug infiziert sie sich mit dem Coronavirus. Margot Zirpel stirbt am 16. Dezember.

Foto: Martin Zirpel
Gerhard Menn, 55
Seelsorger
Gestorben am 13. Dezember 2020
Tausenden Patienten und Angehörigen spendete er Trost und Zuversicht, nahm er die Angst.

Einer der Menschen, um die er sich kümmerte, hinterließ auf einer Klinikbewertungswebseite die Nachricht: „Außerdem stand Herr Dr. Gerhard Menn (Seelsorger) vom ersten Tag an an meiner Seite und gab mir Kraft und Vertrauen. Ich sage einfach nur Danke.“ Zweieinhalb Jahre ist das her. Ein Darmkrebspatient, offenbar sehr froh mit allen Aspekten der Behandlung seiner Krankheit im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede.

„Jeder Mensch stand bei Pastor Gerhard Menn immer im Mittelpunkt seines seelsorgerischen Handelns“, sagen seine einstigen Kollegen, „unabhängig von Religion, Herkunft und Lebenssituation“. Tausenden Patienten, Angehörigen und Mitarbeitern habe er Trost und Zuversicht gespendet, er nahm ihnen die Angst vor Operationen, war nahezu jederzeit ansprechbar.

Gerhard Menn – ausgebildeter Krankenpfleger und Theologe – hatte eine Zusatzqualifikation in Psychoonkologie, leitete das Ethikkomitee der Klinik und war zuständig für die Projekte „Angstfreies Krankenhaus“ und „Anonyme und stille Geburten“. Der Deutschen Welle sagte er einmal: „Die Frauen, die zu uns kommen, möchten unerkannt bleiben. Wenn sie einen muslimischen Hintergrund haben, steht auch das Thema Ehrenmord im Raum. Oder es ist häusliche Gewalt oder Vergewaltigung mit im Spiel. Da fehlt den Frauen die Kraft, sich zu offenbaren.“

Bevor Menn 2012 ans Waldfriede-Krankenhaus kam, arbeitete er viele Jahre als Pastor in der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Er hinterlässt seine Ehefrau und zwei Kinder.

Foto: privat
Eberhard Franke, 89
Leierkastenmann
Gestorben am 12. Dezember 2020
Ein Ereignis machte ihn weltberühmt: der Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke.

Er hat sie noch erlebt, die große Zeit der Drehorgelspieler in den 1930er Jahren, als 600 von ihnen in Berlin registriert waren. Jahrzehnte später erzählte Eberhard Franke, wie er einem als Sechsjähriger durch die Straßen folgte und für ihn die Münzen aufsammelte – ein stilechter Vertreter seiner Zunft mit einem echten Affen als Maskottchen.

1980 kaufte sich Orgel Ebi, wie er sich nannte, für 6000 Mark einen eigenen Leierkasten. Sein Affe allerdings war aus Plüsch. Es wurde seine zweite Karriere, nach Jahren als Ausfahrer und in der Weiterverarbeitung des Ullstein-Verlags. Frankes bevorzugtes Revier war der Kurfürstendamm und überall dort, wo er die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich zog.

Als am 11. Februar 1986 der letzte Agentenaustauch des Kalten Kriegs von Statten ging, baute er sich mit seinem Leierkasten auf der Westseite der Glienicker Brücke auf. Fotografen und Kameraleute aus aller Welt hielten den Moment fest. Von da an war Franke gefragt: Er verabschiedete die PanAm bei deren letzten Abflug aus Tegel, orgelte für die Queen, Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. Als die Mauer fiel, ging er als einer der ersten durchs Brandenburger Tor. Mit „Unter den Linden“.

Nicht vor jedem Einkaufspalast wurde seine Musik geschätzt. Immer häufiger werde er von angestammten Plätzen vertrieben, beklagte er sich im Interview 2015, zu sehen auf Youtube.

Ende November begab er sich mit Rückenschmerzen ins Krankenhaus. Vermutlich hat er sich dort mit dem Coronavirus infiziert. Er starb am Samstag, dem 12. Dezember.

Foto: Oliver Franke
Wolfgang Walter, 93
Aufzugsmonteur
Gestorben am 11. Dezember 2020
Er suchte das Schöne. Ein oft gesagter Satz von ihm: Ich bin zufrieden.

Er war ein Urberliner, Alt-Tempelhofer. Sein Jahrgang gehörte zu denen, die noch in den Krieg mussten, was folgte, waren sechs Jahre russische Gefangenschaft und ein lebenslanges Trauma. Wieder in Berlin zurück, starben kurz darauf seine Eltern. Dann, endlich, eine glückliche Fügung: dieser Frau zu begegnen, die seine werden sollte.

Sie bauten sich ihre kleine, nicht übermäßig begüterte Existenz auf, waren fast 60 Jahre verheiratet. Dem Tennisspiel haftete nichts Elitäres an, das Kind kam mit und tobte selbstverständlich herum. Ein unspektakuläres Leben, keines, von dem die Welt erfahren hätte. Aber ein gern gelebtes, das war es doch.

Zuerst war Wolfgang Walter Aufzugsmonteur und arbeitete sich zum technischen Angestellten hoch. In seiner Freizeit werkelte er an seiner Modelleisenbahn, die niemals fertig wurde.

Als seine Frau starb, suchte er weiter das Schöne. Durch Zufall lernte er ein Ehepaar kennen, das sich auf Ausflüge für Senioren spezialisiert hatte. Der Spreewald, Finowfurt, Templin – oft endeten die Erzählungen darüber mit: war das wieder ein schöner Tag. Ein oft gesagter Satz von ihm: Ich bin zufrieden.

Dann begann die Pandemie, das Einigeln zu Hause. Bis zum 15. November, ein Sturz, ein Bruch, der Oberarm. Die Operation hat er gut überstanden. Covid-19 nicht.

Foto: privat
Ilse Grützner, 84
Lehrerin
Gestorben am 10. Dezember 2020
Immer das Beste daraus machen, das war ihr Motto.

Ilse Grützner war gerade neun, als ihre Heimatstadt Dresden im Bombenhagel unterging, mittendrin verbrannte ihr Zuhause. Das bisschen Habe, das sie noch hatten, zog ihre Mutter im Handwagen nach Zittau. Ilse und ihre kleine Schwester Ellen folgten.

Als gut zehn Jahre später die Eltern mit der Schwester in den Westen gingen aber, blieb Ilse 20-jährig allein zurück. Sie wurde Lehrerin für Musik, spielte fantastisch Klavier und Akkordeon, leitete den Hort in der 5. Polytechnischen Oberschule in Köpenick.

Beliebt war sie, weil sie gerecht war, alle gleich behandelte, egal, ob der Direktor vor ihr stand oder die Küchenhilfe. Letztere war es, die sie mit Klaus zusammenbrachte, dem Malermeister, mit dem sie mehr als 50 Jahre verheiratet war.

Die schöne Wohnung in Wendenschloss gleich am langen See mussten sie aufgeben, als Ilse die Diagnose Multiple Sklerose bekam. Ilse ertrug ihre Krankheit klaglos und Klaus blieb an ihrer Seite. Auch im März 2020, als sie entschieden, in ein Pflegeheim zu ziehen. Nur einen Tag nach ihrem Einzug kam der Lockdown. Ende November wurde Ilse positiv auf Covid-19 getestet. Allein zurück blieb Klaus, inzwischen ebenfalls corona-positiv.

Foto: privat
Walter Pohl, 93
Elektriker
Gestorben am 9. Dezember 2020
Er tischlerte und schnitzte, malte, reparierte. Diesen Händen schien alles zu gelingen.

Sein Geburtstag fällt in das Jahr, als Charles Lindbergh nonstop von New York nach Paris fliegt: 1927. 17 Jahre später wird er selbst fliegen, Segelflugzeuge, er erhält eine Grundausbildung als Pilot, in den Einsatz für die Wehrmacht muss er nicht mehr. Den Krieg überlebt er unbeschadet, wenn auch außerhalb seiner schlesischen Heimat.

Er lernt einen handwerklichen Beruf, weil’s so üblich ist: Elektriker. Findet seine Liebe fürs Leben und gründet eine Kleinfamilie in Berlin. Viel Fleiß, ein bisschen Wohlstand.

Erst im Vorruhestand beginnt er mit dem Tischlern. Kunstvoll gestaltete Tische und Schmuckkästchen mit feinsten Intarsien, geschnitzte Skulpturen. Er reproduziert Ölgemälde bekannter Meister: „Der Ausritt“ von Franz Krüger, „Mann und Frau in Betrachtung des Mondes“ von Caspar David Friedrich. Diesen Händen scheint alles zu gelingen.

Bis ihn die Demenz vereinnahmt. Die letzten beiden Jahre muss er – zu Hause bewältigen sie die Situation nicht mehr – in einer so genannten Seniorenresidenz verbringen. Als das Virus einmal im Haus ist, steckt auch er sich an.

Das 70. Weihnachtsfest mit seiner geliebten Frau: Walter Pohl erlebt es nicht mehr.

Foto: privat
Günter Rossenhövel, 82
Controller
Gestorben am 9. Dezember 2020
Rechnen konnte er wie kein Zweiter, der Verstand war scharf – und er beharrlich.

Die prägende Erfahrung seiner Kindheit: lange Bunkernächte. Hamm im Ruhrgebiet, mindestens 23 Mal wird die Stadt schwer bombardiert. Die Schulbildung fällt nachkriegstypisch kurz aus, nach einer kaufmännischen Ausbildung in einer Zeche arbeitet sich Günter Rossenhövel in den 1970er Jahren über den dritten Bildungsweg zum Leiter für Rechnungswesen hoch. Große, mittelständische Unternehmen, Maschinenbau, pharmazeutische Industrie.

Rechnen kann Günter wie kein Zweiter, mit seinem Verständnis für kaufmännische Zusammenhänge und einem bis zuletzt hervorragenden Gedächtnis ist er überdies ein exzellenter „Controller“. Seine Ehefrau und die zwei Kinder müssen oft bis spätabends warten, ehe er nach Hause kommt.

Eine neue Arbeitsstelle bringt ihn 1985 nach West-Berlin. Schnell kennt er nahezu alle Theater in West und Ost. Auch, wenn eine andere Anstellung ihn schließlich wieder wegführen wird aus dieser Stadt, zurück nach Nordrhein-Westfalen: Nach Berlin kehrt er so oft es geht zurück. Seine Gesundheit war stets bestens. Dann kommt Diabetes, das Herz wird krank, Dialyse. Wieder und wieder rappelt er sich auf. „Kriegskinder sind zäh“, sagt die Hausärztin. Familie und Pfleger bemühen sich nach Kräften. Dann passiert es doch: Im neunten Monat der Pandemie steckt er sich an.

Foto: privat
Gerda Neumann, 97
Kaufmännische Angestellte
Gestorben am 9. Dezember 2020
Viele Menschen sah sie kommen und gehen. Für alle hatte sie ein gutes Wort, einen verstehenden Blick.

Erst vor einem Jahr, im Januar 2020, war sie ins Heim umgezogen. Für sie war das bitter, denn sie war in ihrem Haus vom Vaterländischen Bauverein in Wedding die älteste Mieterin. Geboren 1923 an der Bernauer Straße, war sie 1943 in den ersten Stock des Mehrfamilienhauses gezogen. Als Zwanzigjährige, da hatte sie gerade geheiratet, mitten im Krieg. Berlin wurde zerbombt und wiederaufgebaut, dann zerteilt. In vielen Jahrzehnten hat sie die Menschen in ihrem Haus kommen und gehen sehen. Kinder wurden geboren, Menschen starben, Generationen wechselten in ihrem Treppenaufgang an Gerda Neumann vorüber. Viele haben sie als Nachbarin gegrüßt, manche als Freundin ins Herz geschlossen. Für alle hatte sie ein gutes Wort, einen verstehenden Blick.

Ihr Amt als Kirchenälteste in der Evangelischen Versöhnungsgemeinde übernahm sie in den 90er Jahren, als die neue Kapelle geplant wurde. In der alten Kirche war sie getauft und konfirmiert, an ihrem Turm hatte sie das Uhrzeit-Lesen gelernt – und 1985 schmerzvoll miterlebt, wie alles gesprengt wurde. Davon berichtete sie später in Interviews. In jenen Jahren, als das vor ihrem Küchenfenster einst geteilte Berlin wieder zusammenfand, bekam Gerda Neumanns Biografie eine politische Dimension. Bei der Mauergedenkstätte Bernauer Straße engagierte sie sich als Zeitzeugin.

Die Gemeinde und ihre Kirche, in der heutigen Gestalt der Kapelle, waren ihr biografischer und geistlicher Lebensort. Sie hatte ihren Stammplatz, ganz in der Nähe zum historischen Altarretabel. Wenn sie vor der Abendmahlsfeier das Beichtgebet sprach, wurde es ganz still.

Später, beim Eintreten in den Altersheim-Garten, sahen sie der Pfarrer und die anderen, die sie besuchten, immer schon von weitem. Ruhig saß sie in ihrem Rollstuhl und blinzelte in die Sonne. Sehen konnte sie kaum noch, aber sie erkannte die Stimme und lächelte. Gerda Neumann konnte gut zuhören. War milde und gütig. Auch der Stress der Corona-Zeit schien an ihr vorüberzugehen.

Im letzten Jahr unterhielt sie sich viel mit ihrem Vater, und mit ihrer Tochter, beide waren längst gestorben. Sie war bereits wie auf Besuch, in der kommenden Welt.

Foto: Thomas Jeutner
Regina Mindt, 63
Erzieherin
Gestorben am 4. Dezember 2020
Gesellig, offen, herzlich, so war sie und jeder war bei ihr willkommen.

Sie hatte einen Herzinfarkt gut überstanden, und als Corona kam, schützte sie sich und übte Verzicht: Regina Mindt, 63 Jahre alt, Mutter dreier Kinder, war ein Familienmensch und eine leidenschaftliche, achtfache Oma mit Enkeln im Alter zwischen eineinhalb und 22 Jahren. Und dann das: keine Konfirmation, kein Geburtstag, immer nur Kontakt auf Abstand.

In ihrem Kiez, in Spandau, Ortsteil Hakenfelde, Waldsiedlung, kannte sie fast jeden und fast jeder kannte sie. Hier war sie geboren und immer geblieben. Zuhause waren traditionell alle Türen offen. Sogar für die Freundin der Enkelin war sie wie die eigene Oma. Jeder war willkommen.

Sie war da für die Familie, hielt sie beisammen, die Arme jederzeit ausgebreitet, um zu helfen, zu trösten, um Familie, Verwandte, Freunde und Bekannte zu beherbergen. Sie war Erzieherin, leitete einen eigenen Kinderladen, sah viele Kinder großwerden und viele wegziehen.

Wegen einer Atemwegserkrankung kam sie in ein Krankenhaus. Nichts Schwerwiegendes. Erst dort steckte sich Regina Mindt mit Corona an – und kam nicht mehr heraus.

Foto: privat
Anneliese Bothe, 75
Technische Zeichnerin
Gestorben am 3. Dezember 2020
Sie liebte Musik, die von Bach besonders, sang Sopran in der Dahlemer Kantorei.

Sie liebte Musik. Und die Musik liebte sie zurück – gewissermaßen.

Anneliese sang im Mädchenchor der Wilmersdorfer Lindenkirche, als ein nicht mehr ganz junger Witwer die Leitung hatte. Die knapp 28 Jahre Altersunterschied störten sie nicht, 1971 heirateten die beiden.

Ihr Mann, Organist in der Kirchengemeinde und später Kirchenmusikdirektor, war ein hervorragender Pianist. Anneliese, hauptberuflich tätig als technische Zeichnerin und schließlich Datenverarbeitungsassistentin bei der AEG, organisierte die Hauskonzerte, die er bis kurz vor seinem Tod 2011 noch gab.

Weil sie keine eigenen Kinder bekam, schenkte sie ihre Zuneigung den Kindern ihrer Freunde, brachte kleine Geschenke mit, kümmerte sich liebevoll. Menschen um sie herum begegnete sie offen, ganz egal woher sie kamen. In ihrer Dahlemer Gemeinde gab sie sonntags nach dem Gottesdienst Essen an Geflüchtete aus. Um dies zu finanzieren, spendete sie regelmäßig Gegenstände zum Basarverkauf.

Anneliese war lebensfroh im wahrsten Sinne: Sie engagierte sich, pflegte ihre Bekanntschaften, genoss Kunst – vor allem natürlich Musik. Mit ihren Freunden besuchte sie, wann immer es ging, Konzerte des Rundfunkchors, des RIAS-Kammerchors oder die Brandenburgischen Sommerkonzerte. Die Musik von Bach war ihr mit am liebsten, sie selbst sang Sopran in der Dahlemer Kantorei.

Selbstverständlich, dass sie sich auch bis zu seinem Tod um ihren Bruder kümmerte, der zuletzt in einem Pflegeheim lebte. Vermutlich hat sie sich dort angesteckt. Vierzehn Tage nach ihrem letzten Besuch fühlte sie sich unwohl. Drei Wochen später verstarb sie in einem Krankenhaus.

Foto: privat
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Hannelore Skoda, 89
Hauswirtschafterin
Gestorben am 30. November 2020
Frische Blumen, Gemüse aus dem eigenen Garten, das liebte sie.

Immer zu Weihnachten wurde das Haus der Skodas in Delmenhorst zum Mittelpunkt der Familie. Dort kamen sie alle zusammen und Hannelore Skoda kochte und buk und richtete alles her, auf dass sich alle wohlfühlten. Sie tat es gern. Schöne Blumen, Gemüse aus dem eigenen Garten, das liebte sie. Und ihre drei Kinder natürlich, eine gute Schulbildung sollten sie bekommen, das war ihr wichtig.

Sie selbst hatte darauf verzichten müssen. Geboren 1931 auf einem Bauernhof in Niedersachsen war sie gerade acht, als der Krieg begann. Früh musste sie mitarbeiten. Später erzählte sie von dem Hütehund, dessen Welpen sie auf das Feld tragen musste, weil er sonst nicht mitgekommen wäre, die Kühe von der Weide zu holen.

Später besuchte sie die Hauswirtschaftsschule. Auf einer Tanzveranstaltung ließ Willi Skoda sie nicht aus den Augen, sie hatte sich im selbstgenähten Kostüm als Amor verkleidet. Jeden Sonntag gingen sie ins Tanzlokal, ließen keinen Foxtrott der Kapelle aus.

Als Willi 2004 starb, zog sie zu den Kindern nach Berlin, ein Kindertraum von ihr, Charlottenburg. Seit September 2016 lebte sie im Pflegeheim. Dann kam Corona, die Kinder durften sie nur noch selten besuchen. Am Ende half alle Vorsicht nichts.

Foto: privat
Lothar Kuttner, 92
Techniker
Gestorben am 30. November 2020
Letztlich hat er immer Glück gehabt. Nur dieses Mal nicht.

Er sah zehn bis 15 Jahre jünger aus, fit war er auch, und 100 wollte er werden, mindestens. Noch viel Leben genießen, das ihn als 17-Jährigen in den Krieg geführt hatte. Der Lungenstecksplitter bohrte sich bis kurz vor sein Herz und blieb dort für immer. Als Lothar aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Berlin kehrte, gab es Ärzte, die meinten, ihm den Arm abnehmen zu müssen. Professor Ferdinand Sauerbruch verhinderte das. 

Aufgewachsen war Lothar bei seiner Oma in Schöneberg, Motzstraße, die Eltern hatten sich früh getrennt – und ihn und die zwei jüngeren Brüder auf die Familie verteilt. Bevor er Soldat wurde, bestand er schnell noch die Notgesellenprüfung zum Feinmechaniker, nach seiner Rückkehr half er in der Firma des Vaters, der Spielautomaten entwickelte. Die Anstellung von Dauer fand er als Techniker bei IBM. Er brachte sich das Akkordeonspielen bei, obwohl er keine Note kannte. Eine eigene Familie, ein eigenes Heim: Seine Frau und er fanden es direkt am Stadtpark Steglitz.

Nachdem sie starb, wohnte er allein, gegenüber von Tochter und Schwiegersohn. 2011 und 2015 überstand er sowohl einen leichten Schlaganfall als auch eine Hirnblutung, 2018 wurde ihm ein Darmtumor entfernt. Letztlich hat er immer Glück gehabt. Nur dieses Mal nicht. 

Natürlich hatten sie es ihm verboten, trotzdem stieg er am 16. November auf eine Leiter. Die Ärzte beruhigten: Der Beckenbruch heilt von allein. Den Besuchern fiel die Wärme im Zimmer auf. Zwei Tage später hatten die Tochter und ihr Mann erste Erkältungssymptome. Es gehe ihm gut, „der macht schon wieder Scherze“, sagte eine Pflegerin, als sie erfuhren, dass er auf die Isolierstation verlegt worden war. Tochter und Schwiegersohn, beide inzwischen ebenfalls positiv getestet, telefonierten täglich mehrfach mit ihm. 

Dann: eine Lungenentzündung. Im Schlaf zieht er sich die Sauerstoffmaske herunter. Auf der Intensivstation wäre er besser unter Kontrolle, heißt es. Am Sonntag bittet eine Schwester, am Montag wieder anzurufen, wenn ein Arzt sprechbar sei. Montagfrüh ist es die Oberärztin, die sich zuerst meldet. Lothar Kuttner starb an Herzversagen. 20 Minuten lang hätten sie vergeblich versucht, ihn zu reanimieren.

Foto: privat
Roswitha Reichelt, 80
Sekretärin
Gestorben am 27. November 2020
Sie war Sekretärin beim Tagesspiegel. Ihr Mann führte sie in die West-Berliner Künstlerszene ein.

Der Vater war bereits gefallen, da verlor die gerade Vierjährige auf der Flucht aus Ostpreußen die Mutter aus den Augen. Es war der Winter 44/45, und Roswitha erzählte später oft von der Verlustangst, die sie gespürt hatte. Die beiden fanden sich wieder, in Berlin brachte die Mutter die Familie mit Näharbeiten durch.

1961 fing Roswitha Reichelt als Sekretärin beim Tagesspiegel an, lernte dort Hasso Hinke kennen, Pressezeichner, Karikaturist, Maler, Künstlername Hai. Der führte sie in die West-Berliner Künstlerszene der 60er Jahre ein, in das Lokal „Die Spitze“, nahm sie mit auf den Wolken-Ball der Karikaturisten im Schöneberger Prälaten. Die beiden reisten gern und viel, etwa nach Südfrankreich. Glückliche Jahre.

Nach der Geburt ihres Kindes wechselte Roswitha zur „B.Z.“, die Ehe ging auseinander. Der nächste Mann starb an Krebs. Die Demenz kam früh. Als sie es zu Hause nicht mehr schaffte, zog sie in eine WG für Pflegebedürftige.

Anfang November traten bei ihr Erkältungssymptome auf. Eigentlich galt sie als von Corona geheilt, als sie am 20. November aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Eine Woche später war sie tot.

Foto: privat
Tariq Mahmood, 64
Lebensmittelhändler
Gestorben am 24. November 2020
Er wirkte so, als hätte er verstanden, worum es im Leben wirklich geht.

Tariq Mahmood war ein umtriebiger Mann. Mit Mitte 20 aus Pakistan nach Berlin gekommen, fand er eine Anstellung in einem Flüchtlingsheim in Spandau. Dort arbeitete er sich zum Leiter hoch. Mahmood war außerdem Schöffen-Richter und Dolmetscher bei Gericht. Bekannt wurde er in Moabit durch den Supermarkt TS Foods, den er Ende der 90er Jahre auf dem Gelände der alten Schultheiß-Brauerei gründete, weil die Lebensmittel aus der Weltregion, aus der seine Frau und er stammten, nur schwer zu bekommen waren.

Seine Frau ist Iranerin. Er hat sie im Flüchtlingsheim kennen gelernt, in dem sie lebte und er arbeitete. Die ganze Familie arbeitet im Laden mit, in dem sie Lebensmittel aus Indien, dem Iran, Afghanistan, Pakistan und Afrika verkaufen. Als die Schultheiß-Brauerei zur Shopping Mall umgebaut wird, ziehen sie in die Alt Moabit 74 um. „Klopapier hin oder her, wirklich Sorgen mache ich mir erst, wenn die Berge von Reissäcken hier kleiner werden“, erinnert sich eine Kundin an die Zeit des ersten Lockdowns.

Im zweiten Lockdown hat er seinen Sohn, der noch immer ins Fitnessstudio ging, vor Corona gewarnt. Als der Sohn sich nicht gut fühlte, begleite er ihn zum Test. Das Ergebnis war negativ. Seines nicht.

Dreieinhalb Wochen war er an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Sie haben zu seinem Gedenken ein Foto von ihm ins Schaufenster gestellt. Seitdem tragen Kunden ihre Geschichten mit Mahmood an sie heran: Einem hat er den Einkauf geschenkt, als der kein Geld hatte, einem Flüchtling die Briefe vom Amt übersetzt. „Moabit ist ärmer ohne ihn“, schreibt eine Kundin. „Er strahlte so eine freundliche Gelassenheit aus. Man fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.“ Wie bekannt er im Viertel war, kann man daran ablesen, dass die Polizei bei seiner Beerdigung in Gatow, zu der fünfzig Menschen zugelassen waren, einen so großen Andrang erwartet hat, dass sie vorsorglich die Potsdamer Chaussee sperrte.

Foto: Annette Blum
Jakov Kuznetsky, 83
Ingenieur
Gestorben am 24. November 2020
Drei Leben führte er, in Sibirien, Moskau, Berlin, und jedes Leben liebte er.

Ein Mann wie er, der doch schon so viel erlebt hat, der jammert nicht. Und hatte nicht auch der Arzt gesagt, es sei nur ein milder Coronaverlauf?

Jakov Kuznetsky wurde 83 Jahre alt. Er stammte aus Krasnojarsk in Sibirien, wuchs auf in Omsk. Das war sein erstes Leben. Dann zog er der Liebe wegen nach Moskau, heiratete dort zum zweiten Mal, leitete als Ingenieur eine Uhrenfabrik. Das war sein zweites Leben.

Das dritte führte ihn, den jüdischen Russen, Kriegskind, mit seiner Frau und der Tochter, die klassische Musik studierte, erst nach Baden-Baden und schließlich nach Berlin. Als Berlin noch eine geteilte Stadt war, kamen sie öfter nach Ost-Berlin, und Jakov Kuznetsky mochte diese Stadt irgendwie. Zuletzt wohnte er in Charlottenburg, es war sein Kiez.

Ohnehin hatte er ein Talent, das half ihm überall auf der Welt: Er konnte sehr gut mit Menschen, konnte sie für sich gewinnen. Er war ein Taten-Mensch, er mochte das Leben sehr und er konnte andere motivieren, das Beste aus sich herauszuholen. Zu Hause konnte er albern sein und lustig – er war da für seine Frau und seine Tochter. Immer.

Dann änderte sich der Corona-Verlauf. Das Virus ließ ihn nicht mehr los.

Foto: privat
Manfred von Riesen, 69
Tontechniker & Vertreter
Gestorben am 24. November 2020
Immer war er freundlich, nie aufdringlich, sondern ehrlich interessiert. 

Dass Manfred ein eher ruhiger Typ war, schloss nicht aus, dass er gern plauderte. Die Koffer waren noch nicht ausgepackt, da hatte er im Urlaub bereits die ersten Kontakte geknüpft: immer freundlich, nie aufdringlich, sondern ehrlich interessiert.

Auf Menschen zugehen musste er auch von Berufs wegen. Geboren im thüringischen Altenburg zog er 1970 für den Grundwehrdienst nach Berlin, arbeitete dann als Kraftfahrer beim Zentralen Orchester der NVA. Im Bus fuhr er die Musikanten, im LKW deren Instrumente und die Technik. Weil die ihn zunehmend faszinierte, bildete sich der gelernte Elektriker zum Tontechniker weiter. Nach der Wende fand er Arbeit als Außendienstler – und bediente damit eine weitere Vorliebe: das Autofahren. Tatsächlich fuhr er so gern, dass seine Frau Erika sich den Platz hinterm Steuer erkämpfen musste. Sollte es irgendwo hingehen, starteten die beiden ein Wettrennen: Wer zuerst unten am Auto ist, darf fahren!

Erika und er, sie gingen seit 1970 zusammen, seit sie sich während der Ausbildung im gleichen Betrieb kennengelernt hatten. 1973 heirateten die beiden, bald darauf zog sie ihm hinterher nach Berlin. Die erste gemeinsame Wohnung lag in Pankow, vermittelt über die Armee. Außentoilette! Aber immerhin mit Wasserspülung. Den beiden war’s egal, Hauptsache etwas Eigenes.1976 wurde Sohn Marco und 1979 Tochter Peggy geboren.

Manfred liebte Fußball, wennschon er eher der Typ „Fernsehfußballer“ war. Vereinsmäßig wollte er sich nicht festlegen, wusste Bescheid über Transfers und sämtliche Spieler der Bundesliga. Allein wenn es international wurde, war es Ehrensache: Daumendrücken für Deutschland. Sein Hobby, Briefmarkensammeln, öffnete den Blick weit mehr, als es die jährlichen Familienurlaube je hatten tun können. Er googelte die Herkunftsorte seiner Marken und staunte, was sich hinter manchem verbarg: kleinste Inselstaaten!

Ins Krankenhaus musste er im November eigentlich wegen seines Zuckers, es ging ihm zunehmend schlechter. Bei der Aufnahme dort war sein Corona-Test positiv.

Foto: privat
Christel Schneider, 83
Büroangestellte
Gestorben am 24. November 2020
Sie hatte viele Freunde und eine große Freude: das Singen.

Hatten die Freunde eine Weile nichts von ihr gehört, dann kam irgendwann, aber garantiert: ein Brief von ihr. Christel Schneider, genannt „Chrille“, war niemand, der sich aufdrängte, sie war eher die Ruhige, aber sie liebte die Geselligkeit, und sie kümmerte sich.

Vor allem liebte sie das Singen, zeitlebens, mit engen Freunden und im Oratorienchor von Neukölln. Zu ihrer Beerdigung, Kiefernsarg, vor der Friedhofskappelle der Philipp-Melanchton-Kirche in Neukölln, fanden sich auch Freunde aus ihrem Jugendkreis ein. Dieser Kreis existierte seit den 50er Jahren, manche heirateten, auch untereinander, manche blieben Single wie „Chrille“, aber befreundet blieben sie ein Leben lang.

Sie fuhren gemeinsam und fast jedes Jahr zum Singen nach Usedom. „Chrille“ sang dann nicht nur, sondern organisierte und fotografierte, damit später alle eine Erinnerung hatten. Als sie nicht mehr alles alleine schaffte, musste sie ihr geliebtes Neukölln verlassen und zog in ein Pflegedomizil nach Reinickendorf – weit weg von ihrem Freundeskreis. Alle dachten, sie hätte Covid-19 überstanden. Dann war das Virus doch stärker.

Foto: privat
Christa Maternowski, 81
Technische Zeichnerin
Gestorben am 9. November 2020
Sie liebte es, mit ihrer Kunst Freude zu schenken. Für eine Ausstellung reichte die Kraft nicht.

Sie war eine stille, bescheidene Frau, sagen diejenigen, die sie kannten, das, was man alleinstehend nennt – und doch seit vielen Jahrzehnten dazugehörig: Im Frauen- und Seniorenkreis, in der Malgruppe, in der Gemeinde der Auferstehungskirche in Friedrichshain. An viele hat sie – oft spontan – Bilder verschenkt, mal getuscht, mal mit dem Bleistift gezeichnet, von Sonnenuntergängen, Gärten. Scherenschnitte. An ihrem kleinen Schreibtisch in ihrer Einzimmerwohnung fertigte sie sie an und hörte gern Beethoven dabei. Den anderen gefiel ihre Kunst so gut, sie schlugen vor, sie auszustellen, Christa entgegnete: „Ich brauche meine Kraft für andere Sachen.“

Wegen einer leichten psychischen Erkrankung hatte sie einen gesetzlichen Beistand. Sparsam war sie, schon notgedrungen. Doch als die Gemeinde ihre lang ersehnte, neue Kirche bekam und es hieß, die werde keine Glocken haben, da startete Christa Maternowski einen Aufruf und rührte und trommelte und spendete selber eine, wie die anderen sagen, „erhebliche“ Summe, in erstaunlich kurzer Zeit kam so tatsächlich genug zusammen.

Weil Christa ein ganzes Stück entfernt wohnte, konnte sie die Glocken zu Hause aber selber gar nicht hören. Da hatten die anderen eine Idee. Jeden Abend um 18 Uhr rief fortan im Wechsel einer bei Christa an und hielt das Telefon aus dem Fenster. „Christa, deine Glocken!“

Wo sie sich infizierte? Keiner weiß es. Als der Prädikant noch einmal auf die Idee einer Ausstellung zurückkam, wehrte sie erneut ab. „Das machen wir später einmal.“ Sobald die Corona-Situation es zulässt, werden in der Winterkirche der Auferstehungsgemeinde ihre Kunstwerke zu sehen sein. Geplant war der 15. Januar. Am Tag davor wird sie beerdigt.

Eine Sozialbestattung in Wedding war schon in die Wege geleitet, doch die anderen erinnerten sich: Hatte nicht Christa erzählt, sie habe alles organisiert? Eine gab keine Ruhe, und als endlich mithilfe der Hausverwaltung im Beisein von Zeugen die Wohnung aufgeschlossen wurde, da fand man alles wohlsortiert, vorbezahlt und geregelt, bis hin zur Musik: Beethoven. Christa Maternowski wird im Grab ihrer Eltern beigesetzt, so, wie sie es sich gewünscht hat, auf dem Friedhof an der Friedenstraße. Von dort kann man die Glocken hören.

Foto: privat
Angela Baudach, 73
Buchhalterin
Gestorben am 7. November 2020
Ihr Enkel zog bei ihr ein. Welch ein Segen, dachten sie, für beide.

Geboren wurde Angela Baudach in Lüneburg, nach Berlin zog sie der Liebe wegen, sie folgte ihrem Mann, zuletzt wohnte sie in Köpenick. Die, die sie kannten, heben hervor, was für ein herzlicher Mensch sie war, jemand, der auf andere zuging. Regelmäßig verabredete sie sich zu ihrer Spielegruppe, sie liebte das Theater, Musicals, lachte über die Pantomimen Bodecker & Neander – vor Corona, als es das alles noch gab.

Ihr Mann starb vor drei Jahren, doch sie blieb nicht lange allein in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung. Sie nahm den Enkel auf, der zum Studieren nach Berlin kam und dringend eine Unterkunft suchte. Ganz gesund war sie nicht, litt unter Bluthochdruck, die Arbeit als Verkäuferin im Lebensmittelhandel hatte sie aufgeben müssen. Nach einer Umschulung arbeitete sie bis zur Rente als Buchhalterin in einem Neuköllner Motorradladen.

Im November, es war der 3., ein Dienstag, musste sie sich übergeben, hatte Fieber. Am nächsten Tag schien es ihr zunächst besser zu gehen, doch Fieber und Mattigkeit blieben. Am Donnerstag hatte sie Atembeschwerden, ihr Enkel sagte: Du musst ins Krankenhaus.

Aus dem Koma, in das man sie versetzte, ist Angela Baudach nicht mehr erwacht. Auch ihr Enkel wurde positiv getestet. Er spürte nur einen kleinen Schnupfen. Ob er es war, der seine Großmutter infizierte, oder umgekehrt – diese Ungewissheit bleibt.

Foto: privat
Birgit Baumer, 52
Wissenschaftsorganisatorin
Gestorben am 31. Oktober 2020
In Frida Kahlo sah sie eine Wesensverwandte.

Mit sechs Jahren entdeckte Birgit Baumer die Welt der Bücher, die sich in der Wohnung ihrer Eltern bis zur Decke türmten. Sie gehörten ihrem Vater, Lehrer für Russisch und Latein, und weil sie ein Papa-Kind war, vertiefte auch sie sich in diese Schätze, begann die Sagen des Altertums zu lesen und die russischen Märchen, da war sie noch nicht einmal eingeschult.

Nach den Büchern kam das Theater. Volksbühne, Berliner Ensemble, Deutsches Theater, sie wurde Dauergast, schwärmte für Heiner Müller und den Schauspieler Ulrich Mühe, den verehrte sie. Als nach dem Abitur das Studium kam, sie entschied sich für Wissenschaftsorganisation, schrieb sie ihre Diplomarbeit zum Thema Szenariotechnik in Zusammenarbeit mit dem Maxim-Gorki-Theater. Der Höhepunkt war, dass sie Ulrich Mühe dafür in dessen Küche interviewen durfte.

Eine weitere Leidenschaft war der Flamenco. Ihre Tanzschule bescheinigte ihr außerordentliches Talent. Doch Birgit Baumer, bei aller Fröhlichkeit und allem Optimismus, erlebte auch dunkle Momente. Nach einem Sturz war sie zeitweise auf den Rollstuhl angewiesen, es war vorbei mit dem Tanzen. Sie erholte sich mühsam, widmete sich mit ganzer Kraft ihrer Arbeit am Wissenschaftszentrum Berlin, wo sie 25 Jahre lang Sozialforschungsprojekte betreute. Und entdeckte Frida Kahlo. In der mexikanischen Künstlerin, selbst von Schmerzen und einer Behinderung geplagt, sah sie eine Wesensverwandte. Sie dekorierte ihre Wohnung in Kahlos Stil, und weil sie gern kochte, kochte sie nun auch mexikanisch.

Gern hätte sie ihren Sehnsuchtsort Mexiko besucht, doch ein weiterer Sturz und schließlich eine Krebserkrankung durchkreuzten alle Pläne. Schließlich blieb ihr nur das Bett. Aber hatte nicht auch Frida Kahlo im Bett gemalt? Und hatte die nicht gesagt, „nichts ist mehr wert als lachen“? Birgit Baumer zog mit ihrer nur ein Jahr älteren Schwester Kristina zusammen.

Kristina ist Lehrerin wie einst der Vater. Nach den Sommerferien ging sie wieder in die Schule. Im Oktober war ihr Test positiv. Birgit starb keine zwei Wochen später. Bei ihrer Beisetzung spielte ein Gitarrist Flamenco.

Foto: privat
Helga Kokott, 93
Schneiderin
Gestorben am 30. Oktober 2020
Und wie sie sich auf die Erdbeeren freute, im Sommer 2020. Da hatte sie zwei ernste Operationen überstanden.

Im Sommer, erinnert sich der Sohn, hatte die Mutter eine Tüte voll Erdbeeren, die er ihr brachte, mit großem Appetit verputzt. Einmal sprechen sie über Corona, die Mutter sagt, dass sie keine Angst habe. Helga Lucie Kokott hat fast alles überlebt in diesem verflixten Jahr 2020. Covid-19 nicht.

Sie wollte nie eine Herzoperation, hatte oft Atemnot, der Sohn versuchte, sie zu überreden. Mitte Februar hat sie Wasser in der Lunge. Endlich willigt sie ein.

Als sie mit der künstlichen Herzklappe aufwacht, bemerkt sie sofort den Unterschied. „Hätte ich das gewusst, hätte ich es gleich gemacht.“ Danach stürzt sie, der Oberschenkelknochen ist gebrochen. Wieder Krankenhaus, wieder Operation. Fieberschübe. Sie wird in dieser Zeit, sagt der Sohn, mehr als zehnmal auf Covid-19 getestet. Immer ist das Ergebnis negativ.

Stattdessen wird eine rheumatische Erkrankung festgestellt. Mit Cortison bekommen die Ärzte auch das in den Griff. Helga Kokott freut sich wieder auf ihr Lieblingsobst. Endlich ging es ihr wieder gut.

Als der nächste Test positiv ausfällt, kann niemand aus der Familie bei ihr sein. Helga Kokott stirbt am 30. Oktober auf der Palliativstation eines Zehlendorfer Krankenhauses.

Foto: Jan-Niklas Kokott/ privat
Irmgard Schlösser, 87
Friseursalon-Inhaberin
Gestorben am 25. Oktober 2020
Mit ihren Enkelsöhnen ging sie ins KaDeWe, um „die Augen auszuführen“.

Berlin war für sie ein Neuanfang. Als Irmgard Schlösser 1945 mit ihrer Familie aus ihrer Heimat im ostpreußischen Insterburg vor dem Krieg flüchtete, besaß sie nichts mehr. Oft erzählte sie, wie sie beim Anblick jenes Schutthaufens erstarrte, der nur wenige Stunden zuvor noch ihr Zuhause gewesen war. Die Flucht prägte sie: Eine Notfalltasche stand stets in ihrem Kleiderschrank, sie war immer bereit, aufzubrechen.

Doch plötzlich aufbrechen musste sie nie wieder. Im Gegenteil. In der Hauptstadt lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, übernahm mit ihm den Friseursalon ihres Schwiegervaters am Attilaplatz und bekam einen Sohn. Wenig später zog die kleine Familie in eine Wohnung direkt gegenüber. Es war ihr letzter Umzug. Doch wirklich angefangen zu leben hat Irmgard Schlösser als Rentnerin. Sie und ihr Mann holten nach, wofür sie zuvor keine Zeit hatten: Reisen. Am liebsten fuhren sie mit dem Auto durch Deutschland oder machten Kreuzfahrten in Norwegen. Am Wochenende ging sie gerne mit ihren Enkelsöhnen ins KaDeWe, um – wie sie sagte – „die Augen auszuführen“.

Doch es wurde für sie nicht alles unbeschwerter im Alter. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Irmgard Schlösser damit, ihren Ehemann zu pflegen, der nach einem Sturz bettlägerig war. Als sie die Belastung nicht mehr alleine schultern konnte, kam er in ein Pflegeheim. Dort besuchte sie ihn jeden Tag bis zu seinem Tod. Es war selbstverständlich für sie. Etwa ein Jahr später wurde Irmgard Schlösser krank. Ihre Nase lief, ihr Hals kratzte ein wenig – nichts weiter als ein Schnupfen, so dachte sie. Dann bekam sie über Nacht Atemprobleme und Fieber. Die Diagnose: Lungenentzündung, ausgelöst durch das Coronavirus.

Es dauerte nur eine Woche, bis sie im Krankenhaus starb. Beim letzten Besuch ihrer Familie versprach sie mit schwacher Stimme, eine Weihnachtsgans runter zu schicken, wenn sie oben im Himmel sei.

Foto: privat
Karlheinz Drechsel, 89
Musikjournalist & Jazzmusiker
Gestorben am 5. Oktober 2020
Die Kommunisten waren nicht froh mit seiner „Ami-Musik“. Unbeirrt erklärte er der DDR den Jazz.

Draußen strafften sich die Leute zur Marschmusik, drinnen, in der Dresdener Wohnung, liefen Count Basie und Duke Ellington. Karlheinz’ älterer Bruder, Soldat und Frontkurier, brachte einmal im Monat neues Material. Die Musik ergriff Karlheinz so sehr, dass er sein Koffergrammophon mit in die Schule nahm, um sie allen vorzuspielen. Sein Lehrer zerbrach die Platten.

Nach dem Krieg hatten die russischen Besatzer keine Einwände, erst Walter Ulbricht nannte den Jazz „Affenmusik“. Karlheinz’ Swing-Zirkel wurde verboten. Karlheinz trat als Redner auf, gründete die „IG Jazz“ mit, wurde Schlagzeuger bei den „Elb Meadow Ramblers“. Als die „IG Jazz“ ebenfalls aufgelöst wurde, moderierte er im Radio einmal pro Woche das „Jazzpanorama“.

Fürs DDR-Fernsehen schuf er die erste Jazz-Sendung. 1965 kam Louis Armstrong ins Land. Karlheinz begleitete seine Tournee. „My Dear Mr Karlheinz Drechsel“, schrieb Armstrong zwei Jahre später, „You must have thought that I had forgotten you, but I did not.“

Seit 1971 organisierte Karlheinz Drechsel das Dixieland-Festival in Dresden – ein enormer Erfolg, über Jahrzehnte.

2004 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Am 5. Oktober 2020 ist er am Coronavirus gestorben.

Foto: Imago Images/ Andreas Weihs
Eugen Eichhorn, 75
Mathematik-Professor
Gestorben am 29. Mai 2020
Sein Vater war im Krieg, er kämpfte für den Frieden. Nur die Mathematik vermochte es, ihn zu beruhigen.

Eugen wollte reden, von Anfang an. In der hessischen Kreisstadt, in der er aufwuchs, herrschte das große Schweigen nach dem Krieg. Sein Vater, Offizier in der Wehrmacht, an der Ostfront gestorben – war er an Verbrechen beteiligt gewesen? Die Frage nach Schuld und Verantwortung ließ Eugen nie los. Es mussten doch Schlüsse gezogen werden, für die Befreiung Lateinamerikas, gegen den Vietnamkrieg, Proteste, Sitzblockaden, Austauschprogramme. „Jetzt“ war eins seiner Lieblingsworte.

Beruflich aber befasste er sich mit der Mathematik. Seine Tochter sagt: „Ich glaube, sie hat ihn beruhigt. Wenn er die Mathematik nicht gehabt hätte, er wäre wohl explodiert.“ Eugen lernte Hilda kennen, 1972 zogen sie nach Berlin, machten eine Wohngemeinschaft auf. Dass eine Kleinfamilie nicht das richtige für ihn sei, machte er schnell klar. Als ein Kind auf der Welt war, nahm er es mit zu Demonstrationen gegen den Berliner Forschungs-Atomreaktor.

Eugen trennte sich von Hilda, und er begegnete Silvia. 1988 wurde er Professor an der Beuth Hochschule für Technik. Wenn die Studenten streikten, solidarisierte er sich natürlich. Gründete das Deutsch-Japanische-Friedensforum, fuhr oft nach Hiroshima und Nagasaki. Gab Friedensvorlesungen, als er längst in Rente war. Auf seiner letzten Reise nach Japan infizierte er sich mit dem Coronavirus. Seine Tochter saß bei ihm, als er starb.

Foto: privat
Heinz-Peter Baganz, 75
Verwaltungsbeamter
Gestorben am 24. Mai 2020
Dieser Stadt zu dienen, war sein Lebenssinn: in der Verwaltung, bei der freiwilligen Polizeireserve, als ehrenamtlicher Richter.

Seine Mutter war Krankenschwester. Seinen Vater, einen bereits verheirateten Schlawiner, lernte er nie kennen. Allein brachte sie ihren Sohn zur Welt, schaffte es irgendwie, dass es genug zu essen gab, im Winter in der Steglitzer Mietwohnung nicht kalt wurde. Mit den Kindern seiner Straße durchsuchte Heinz-Peter Kriegsruinen. Einmal erhitzte er eine gefundene Patrone in der Pfanne auf dem Gasherd: das Geschoss ging los, ein Riesenloch in der Wand.

Die Rosinenbomber kamen und Heinz-Peter hatte Glück, erwischte Schokolade. Draußen sein, mit den Pfadfindern im Wald, Nachtwanderungen und Fahrten, das war seins. Schule eher nicht so, er schwatzte einfach so gerne, ließ sich ablenken. Weil er nicht zugeben wollte, dass er eigentlich eine Brille brauchte, bekam er auch nicht richtig mit, was der Lehrer auf der Tafel schrieb.

Erst eine Ausbildung zum mittleren Dienst, gleich danach zum gehobenen Dienst. Warum der Rabauke aus der Schule als Beamter der Stadt dienen wollte? „Berlin umzingelt von Stacheldraht“ steht in seinem Tagebuch. Es herrschte Kalter Krieg, sein Berlin schien in ständiger Gefahr. Da verpflichtete er sich bei der Freiwilligen Polizeireserve, lernte mit einem alten französischen Karabiner das Schießen.

Seine Mutter mochte seine Freundin nicht. Dessen Eltern ihn nicht. „Jetzt erst recht“, sagt er sich. Sie heirateten, bekamen einen Sohn, für den er Wildwest-Forts baute. Als der Reaktor in Tschernobyl explodierte, war er Teil der Taskforce, die Berlin logistisch auf ein Unglück vorzubereiten hatte. Von Magermilchpulver bis Babynahrung ging alles über seinen Schreibtisch. Später arbeitete er als Leiter für das Beschaffungsreferat der Polizei, verhandelte über Schutzausrüstungen und Bewaffnung. War ehrenamtlicher Richter, sang im Polizeichor, schaffte 100 Liegestütze am Morgen.

Dem Arzt sagte er noch, dass er das Krankenhaus so verlassen wollte, wie er hereingekommen war: aufrecht. Am 24. Mai starb er.

Foto: privat
Michael Wend, 79
Stadtentwickler
Gestorben am 8. Mai 2020
Er kam nach Berlin mit dem Wunsch, etwas Sichtbares zu schaffen: Häuser!

Michael Wend kam nach Berlin mit dem Wunsch, etwas Sichtbares, gesellschaftlich Nützliches zu schaffen. Ihm ging es nicht so sehr um die Gestalt einzelner Häuser, sondern um ihren sozialen oder kulturellen Zusammenhang.

Als Mitarbeiter der Senatsverwaltung, Referat Stadterneuerung und Modernisierung, rang er mit Entscheidungsträgern, verhandelte mit Eigentümern, erstritt Fördermittel. Den Staatssekretär verfolgte er bis zur Toilette, um eine wichtige Zusage zu erhalten. Dass die Neuköllner Oper im Ballsaal eines ehemaligen Gesellschaftshauses eine ständige Spielstätte bekam, war auch sein Verdienst. Ein Industriegebiet in Oberschöneweide wurde zur neuen Heimat der Hochschule für Technik und Wirtschaft und zahlreicher Studenten.

Aurore lernte er im Sommer 1966 während des Theaterfestivals in Avignon kennen. Sie sang Lieder von den Antillen, er stand in der Zuschauermenge und verstand sofort: das ist die Richtige. 1972 wurde der Sohn Jérôme geboren. 2007 starb Aurore an einem Asthmaleiden.

Später wurde Michael ein liebevoller Großvater. Mit seiner Freundin Hilde versäumte er selten eine Aufführung in der Neuköllner Oper, war Mitglied in einer Sportgruppe, reiste viel. Auf einer Reise Anfang des Jahres bekam er eine Lungenentzündung. Kurz danach hatte er einen Termin zu einer Herzoperation, keine große Sache, minimalinvasiv. Die Operation lief nicht reibungslos, er rang mit dem Leben, erholte sich schleppend, kam zur Reha. Und steckte sich dort mit Covid-19 an.

Foto: privat
Eva Sternheim-Peters, 95
Lehrerin, Psychologin, Autorin
Gestorben am 13. April 2020
Hatte sie denn allein für die Nazis gejubelt? Den zweiten Teil ihres Lebens versuchte sie, den ersten zu verstehen.

Eva wächst in Paderborn auf. „In der Hitlerjugend allezeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer“, dieses Versprechen meint Eva ganz ernst und wird Hitler bald glühend verehren. Ihr Leben ist in diesen Tagen eine permanente Vergewisserung der Heimat: Zu Fuß durch den Thüringer Wald, eine Fahrt ins deutsche Elsass, Sonnenwendfeiern, die Wartburg bei Eisenach. Buchenwald, Ravensbrück, Birkenau? Das Wort Lager bedeutet für Eva einfach, dass die Deutschen gut organisieren können.

Dann ist der Krieg vorbei. Beide Brüder sind gefallen, und in den Wochenschauen zeigen die Alliierten Bilder von Leichenbergen. Es beginnt der zweite Teil ihres Lebens: Sie wird ihn darauf verwenden, den ersten zu verstehen. Studiert Psychologie, heiratet einen Mann, dessen Familie im KZ umgekommen ist, gibt an der FU Seminare zum Faschismus. Und schreibt ein Buch, es heißt: „Habe ich denn allein gejubelt?“ Erst viel später, 70 Jahre nach Kriegsende, erfährt es wirklich Aufmerksamkeit. Eva Sternheim-Peters gibt Interviews, Lesungen.

Seit den 80er Jahren hat sie Menschen aus aller Welt bei sich aufgenommen. Petnga, den Musikstudenten aus Tschad, Marie, die Ärztin aus Burkina Faso. Bis zuletzt lebte ein Mann aus Syrien bei ihr. Mit ihm hat sie unlängst noch die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen besucht. An ihrem 95. Geburtstag im März 2020 wollte sie nochmal eine Lesung machen. Dazu kam es nicht mehr.

Foto: Doris Spiekermann-Klaas
Peter Kittel, 96
Bibliothekar
Gestorben am 9. April 2020
Ordnung in die Bestände der Staatsbibliothek zu bringen: eine besondere Herausforderung.

Peter Kittel war Leiter der Katalogabteilung in der Staatsbibliothek Unter den Linden. Keine einfache Aufgabe: 1945 lag der Bau zu Teilen in Schutt und Asche. Zweitens hatte man Unmengen von Schriften vor den Bombardierungen Berlins ausgelagert. Drittens stand es um die vor Ort gebliebenen nicht zum Besten.

Die gesellschaftliche Ordnung sah eigentlich nicht vor, dass jemand aus Oschatz, Sachsen, dessen Vater in einem Eisenwarengeschäft arbeitete, sich auf den Weg in die Akademikerschicht begab. Peter Kittel fiel auf, schon früh, mit seiner Wachheit, seiner Geistesgegenwart. Lernte am Gymnasium für Hochbegabte in Meißen, machte sein Abitur wegen einer hartnäckigen Tuberkulose im schweizerischen Kurort Davos. Dann: Jura. Sein Studium in Frankreich gefiel den Genossen nicht, sie entließen ihn aus dem Justizdienst. Da bekam er den Hinweis auf die Lehrgänge als Bibliotheksreferendar.

Zu diesem Zeitpunkt war er bereits mit Johanna verheiratet. Wenn sie sich zu ihm umdrehte, im Sommer mit den beiden Kindern am See, hockte er da mit seinen Karteikarten, weil es noch irgendetwas zu ordnen, katalogisieren gab. Humorvolles Glück. Leichtigkeit. 66 Jahre lang.

Wenn sein Enkel ihn für seine Masterarbeit um Hilfe bat, übersetzte er ihm 1000 englische Textseiten ins Deutsche. Am 9. April ist Peter Kittel gestorben.

Foto: privat
Wolfgang Rößler, 72
Arbeitsvermittler
Gestorben am 4. April 2020
Am Abend vor dem Lockdown stieß er mit den Freunden nochmal auf das Leben an.

Am Tag, an dem alle Lokale schließen mussten, ging er mit zwei Freunden noch einmal in ihre Stammkneipe, ins „Imma uff“ in Charlottenburg. Um 22 Uhr war zu. Ein Bier noch im Stehen an der Dönerbude, Wolfgang trank ausschließlich alkoholfrei, dann verabschiedeten sie sich.

Das nächste Mal sahen sie einander via Skype, da lag er zu Hause im Bett: „Mir geht es beschissen“. Für eine Blasenkrebs-Operation war er in der Zwischenzeit im Krankenhaus gewesen, und von dort meldete er sich schließlich per Telefon ein letztes Mal. Ob er sich in der Klinik infiziert hatte? Die Freunde vermuten es. „Ich habe mich abholen lassen“, sagte er, „es ging nicht mehr“.

Frank lernte ihn nach der Wende kennen, Wolfgang zeigte ihm Westberlin, dann Köln, wo er in der Nähe gearbeitet hatte, im Gegenzug führte Frank ihn durch Prag, Budapest. Eine Freundschaft, die 30 Jahre währte. Wolfgang kam aus der Oberpfalz. Mitte der 70er Jahre war er nach Berlin gezogen und wollte nie wieder weg. Wenn jemand ihm etwas vormachte, ihn für dumm verkaufen wollte, ob im Berufsalltag im Arbeitsamt, in persönlichen Beziehungen oder bloß ein paar Barhocker weiter herumspann, das konnte er nicht leiden: „Erzähl doch keinen Mist!“, rief er dann und hielt dagegen bis es quietschte.

Zuerst war der Darmkrebs, eine schwere Schuppenflechte machte ihm zu schaffen, er nahm alles hin, fuhr ans Tote Meer zur Erholung und nach Gran Canaria, pflegte aufopferungsvoll seinen Partner bis zu dessen Tod vor zwei Jahren. Nichts konnte ihn umwerfen. Dachten sie.

Foto: Frank Lindner
Jörn Kubicki, 54
Neurologe
Gestorben am 28. März 2020
Als Klaus Wowereit sagte: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“, war er längst mit Jörn Kubicki zusammen.

Im März 1993 hatten sie sich in der Kreuzberger „Bar Centrale“ kennengelernt und miteinander erfahren, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet: Wo Klaus Wowereit und Jörn Kubicki gemeinsam auftraten, waren sie rasch umringt. Für die neue Rolle des Mannes an der Seite eines Regierenden Bürgermeisters setzte Jörn Kubicki hohe Standards.

Seinen Partner unterstützte er bei offiziellen Anlässen stets diskret, gleichermaßen zugewandt wie zurückhaltend. Er hatte seine eigene Karriere und Berufung. Die Frage nach einem sozialen Engagement, die First Ladys so oft gestellt wird, beantwortete der Neurologe und Chirurg einmal mit den Worten: „Ich bin Arzt von Beruf. Das ist für mich soziales Engagement.“

Die beiden hatten einen großen Freundeskreis und liebten private Tafelrunden mit bis zu zwölf Gästen bei sich zu Hause. Nachdem Klaus Wowereit aus der Politik ausgeschieden war, gingen sie auch mal nachmittags ins Programmkino: ein neuer Luxus im Leben abseits des politischen Tagesgeschäfts.

Schon einmal hatte er in Lebensgefahr geschwebt – nach einem schweren Autounfall im September 2015. Davon konnte er sich erholen. Als Raucher litt der 54-Jährige aber unter der schweren Lungenkrankheit COPD. Er hatte dem Virus zu wenig entgegenzusetzen.

Foto: Arno Burgi/ picture-alliance, dpa
Mitarbeit an dieser Seite: Andreas Austilat, Elisabeth Binder, Katja Demirci, David Ensikat, Sidney Gennies, Karl Grünberg, Annett Gröschner, Torsten Hampel, Verena Friederike Hasel, Maris Hubschmid, Manuel Kostrzynski, Armin Lehmann, Hendrik Lehmann, Janina Martens, David Meidinger, Tatjana Wulfert.

Das Projekt wurde inspiriert von den Artikeln Those We've Lost von der New York Times und Die Toten hinter der Statistik. Wir danken der Evangelischen Kirche Berlin (EKBO) sowie sämtlichen Organisationen, Leserinnen und Lesern und zuallererst den Angehörigen, die dieses Gedenkprojekt unterstützen.

Wenn Sie ebenfalls jemanden durch Corona verloren haben und möchten, dass er auf dieser Seite erscheint, schreiben Sie uns eine Mail an corona-gedenken@tagesspiegel.de.
Veröffentlicht am 21. Dezember 2020.
Zuletzt aktualisiert am 3. September 2021.