Klimawandel, Rente, Mieten – und Gendern? Geschlechtergerechte Sprache ist in diesem Wahlkampf ein wichtiges Thema. Beim ersten TV-Triell von Laschet, Baerbock und Scholz stellte das Moderationsteam eine Frage zum Gendersternchen. Friedrich Merz und der Hamburger CDU-Chef Christoph Ploß hatten sich zuvor bereits öffentlich gegen das Gendern ausgesprochen und das Thema so auf die Agenda gesetzt. Seitdem wird in der Union darüber gestritten, ob Gendern Wahlkampfthema sein sollte oder nicht. Linke und Grüne setzen weitgehend auf geschlechtergerechte Sprache, in SPD und FDP spalten sich die Positionen.
Die größten Gender-Kritiker*innen aber finden sich in der AfD. Sie beklagen „Gender-Gaga“ und „Gender-Wahn“ in links-grünen Parteien, Schulen, Universitäten und Medien. Eine umfangreiche Analyse von hunderttausenden Social-Media-Posts durch Tagesspiegel, Democracy Reporting International und das Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change zeigt allerdings: Keine Partei beschäftigt sich auf Twitter und Facebook mehr mit Gender als die AfD. Das gilt sowohl für den aktuellen Wahlkampf als auch für die jetzt auslaufende Legislaturperiode. Die angeblich linke Debatte wird inzwischen zu großen Teilen von rechts geführt.
Den größten Anteil aller Tweets und Facebook-Posts von Abgeordneten aus diesem Jahr, die das Wort „Gender“ enthalten, macht die AfD aus. Das kann der Hashtag #Gender sein oder Worte, die mit „Gender“ beginnen, nicht aber Worte, in denen „gender“ enthalten ist – wie „überzeugender“. Ob das Wort in einem positiven oder negativen Kontext verwendet wird, war dabei unerheblich. Deutlich abgeschlagen auf Platz zwei liegt die Union.
Betrachtet man alle Tweets der Bundestagsabgeordneten aller Parteien und aller Landtagsabgeordneten seit Oktober 2017, in denen „Gender“ vorkommt, liegt ebenfalls die AfD deutlich vor den anderen Parteien. Sie ist es also, die die Debatte um das Thema Gendern auf Twitter befeuert. Interessanterweise gilt das sowohl für die absolute Zahl der Tweets (sie posten mehr dazu als alle anderen), den relativen Anteil an allen Posts aus der AfD und den oben zu sehenden Vergleich über die Parteien hinweg.
Das war nicht immer so, wie die Langzeitanalyse zeigt. Anders als im Deutschen gibt es im Englischen zwei Begriffe für Geschlecht: „Sex”, das biologische Geschlecht und „ Gender”, das sogenannte soziale Geschlecht. Der Begriff wurde ursprünglich von eher linken Sozialwissenschaftler*innen geprägt und zielt darauf ab, die Allgemeingültigkeit der Kategorien Mann und Frau infrage zu stellen. Kernthese: Der Mensch wird nicht durch Penis oder Vagina zu Mann oder Frau, sondern vor allem dadurch, dass die Gesellschaft uns männliche und weibliche Rollenbilder beibringt. Bestimmte Zuschreibungen sind also nicht biologisch, sondern gesellschaftlich bedingt – und können verändert werden. Warum verbreitet gerade die AfD diesen Begriff?
Bevor die AfD in den Bundestag eingezogen ist, war das Verhältnis ein sehr anderes. Damals wurde der Begriff beispielsweise von den Grünen noch häufig verwendet. Die AfD begann allerdings schnell, den Begriff zu kapern. „Die AfD nutzt das Thema Gendern schon seit geraumer Zeit“, sagt Henning Lobin. Lobin ist Professor für Germanistische Linguistik in Mannheim und leitet das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache. Bereits in ihrem Grundsatzprogramm 2016 hat die Partei die Ablehnung des Genderns verankert, genau wie ihren Wahlprogrammen 2017 und 2021. „Die AfD ist die einzige Partei, die das Thema seit Jahren programmatisch vertritt”, so Lobin.
Um zu verstehen, was hinter der AfD-Obsession mit Gendern steckt, lohnt es sich, die Posts und Tweets zum Wort Gender genauer zu betrachten. Besonders aufschlussreich ist das, wenn man sich zunächst anschaut, welche Abgeordneten den Begriff am meisten nutzen.
Der Bundestagsabgeordnete, der sich in der laufenden Legislaturperiode prozentual am meisten mit Gender beschäftigt hat, ist Marc Jongen von der AfD. In sieben seiner 234 Tweets aus den letzten vier Jahren kam Gender vor, das entspricht fünf Prozent. Jongen ist kulturpolitischer Sprecher der AfD im Bundestag. Er war Dozent für Philosophie, schrieb seine Doktorarbeit beim viel diskutierten Philosophen und Publizisten Peter Sloterdijk und wird in den Medien gern „Parteiphilosoph“ und „Chefideologe“ der AfD genannt.
Sein liebstes Thema sind die Gender Studies an den Universitäten. „#gender-Lobbyisten und Staats-#feminismus haben die akademische Welt im Würgegriff“, twittert er am 25. Mai dieses Jahres. Im Dezember 2020 schrieb er, an deutschen Unis würde sich „intellektueller Terrorismus“ breitmachen.
Zahlenmäßig liegt Beatrix von Storch noch weit vor Jongen. 42 ihrer 2881 Tweets seit Oktober 2017 hat sie dem Thema Gender gewidmet. Um die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD gruppiert sich der christlich-fundamentalistische Flügel der Partei. Sie ist eine prominente Antifeministin. Auch eine Unionspolitikerin hat es in die Top Fünf der Gender-Twitter*innen geschafft: Jana Schimke, CDU-Abgeordnete aus Brandenburg, die in sieben ihrer 427 Tweets „Gender“ erwähnt. Auch sie nutzt die von der AfD geprägten Hashtags #Gendergaga und #Genderwahn, echauffiert sich über „Gendersprache“ und „tendenziöse Berichterstattung“ in öffentlich-rechtlichen Medien.
Im Vergleich der Tweets aller Parteien nutzen also nicht etwa die frauenpolitischen Sprecher*innen von Linken, SPD und Grünen das Wort „Gender“ besonders häufig, sondern erklärte Gegner*innen des Konzepts.
Auf Facebook sieht es ganz ähnlich aus. Seit dem 1. Januar 2021 finden sich unter den Top Five Facebook-Postern über Gender vier Abgeordnete der AfD und einer der CDU.
Die Politiker*innen, die am meisten über Gender twittern und posten, haben also eine negative Einstellung dem Wort gegenüber - und stammen fast alle aus der AfD. Henning Lobin vertritt die These, dass die AfD ihre sprachpolitischen Positionen als Mechanismus nutzt: „Über das Thema Sprache, das als zentral für das gesellschaftliche Miteinander gesehen wird, will sie andere, etwa familien- und gesellschaftspolitische Themen adressieren”, sagt er. Die Partei geht davon aus, dass sie mit der Ablehnung geschlechtergerechter Sprache viele Menschen erreicht – und darüber andere Positionen stärken kann, etwa im Bereich der Gleichstellungspolitik.
Auffällig ist auch, dass die CDU vorne mit dabei ist. „Die Union beschäftigt sich in diesem Wahlkampf zum ersten Mal intensiver mit diesen sprachpolitischen Themen”, sagt Lobin. „Auch hier wird wohl ein gewisses Mobilisierungspotenzial gesehen.” So seien auch die sprachpolitischen Punkte im Wahlkampfprogramm der Union im Vergleich zu 2017 angestiegen.
Thematisch unterscheidet sich deutlich, in welchem Zusammenhang das Wort auftaucht. Bei den Grünen und Linken geht es häufig um die Gender Pay Gap, also die Differenz des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes von Frauen und Männern. Bei der AfD kommt der Begriff in diesem Kontext nur äußerst selten vor.
Bei der AfD nimmt eine Wortkreation die dominante Stellung in der Diskussion ein: Gendergaga. Geprägt wurde der Begriff von dem Verein Deutsche Sprache, der sich gegen das Gendern einsetzt und dem auch AfD-Politiker*innen wie Stephan Brandner angehören. 2015 veröffentlichte die christliche, rechtskonservative Publizistin Birgit Kelle das Buch „GenderGaga: Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will“, seitdem erfreut sich der Begriff in rechten und konservativen Kreisen großer Beliebtheit. An zweiter Stelle kommt bei der AfD „gendern“, dann der „Genderwahn“.
In den Tweets der Unionsabgeordneten zum Thema dominiert hingegen das Gendersternchen. Veränderungen in der Sprache scheinen für die Politiker*innen von CDU und CSU von besonderem Interesse zu sein, während es bei Linken und Grünen häufiger um ökonomische Aspekte der Debatte geht. Bei der SPD geht es besonders oft um „gender equality“, also die Gleichheit der Geschlechter.
Hier zeigt sich eines der Hauptprobleme in Diskussionen um Gender: Der Begriff wird in ganz unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Bedeutungen genutzt. Grüne, Linke und SPD scheinen ihn häufig schlicht als Übersetzung für Geschlecht zu nutzen, während er bei Union und AfD theoretisch aufgeladen ist und zahlreiche zusätzliche Bedeutungen mitschwingen.
Das könnte auch einer der Gründe sein, warum das Wort „Gender“ nicht mehr so sehr von den Mitte-Links-Parteien genutzt wird. Es wurde zu einer Art „Unwort“ gemacht. Wer es benutzt, läuft ebenfalls Gefahr, sofort eine Welle an wütenden Antworten zu bekommen. Häufig twittern und posten Grüne, Linke und SPD jetzt stattdessen von „Geschlecht“.
Vergleicht man AfD und Grüne, die beiden Parteien, die in dieser Legislaturperiode am meisten über Gender getwittert haben, zeigt sich: Die Grünen haben über die letzten Jahre deutlich häufiger das Wort „Geschlecht“ als „Gendern“ genutzt, die AfD häufiger „Gender“ als „Geschlecht“. In der Union hielten sich beide Begriffe die Waage bis zum Wahlkampfjahr: Tweets zu Gender der Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU stiegen ab Januar 2021 drastisch – pünktlich zum Beginn des Superwahljahrs.
Bei Linke und SPD zeigt sich: Über die vergangenen Jahre nutzten sie ebenfalls häufiger „Geschlecht“ als „Gender“, nur in den letzten Monaten hat „Gender“ sich nach oben geschoben und wird nun etwa gleichhäufig verwendet – wohl auch, weil das Thema von mehreren Unionspolitikern auf die politische Agenda gesetzt wurde.
Es zeigt sich generell der Trend, dass in eher progressiven Parteien der Begriff „Gender “ weniger genutzt wird und stattdessen etwa von „geschlechtergerechter Sprache“ die Rede ist. Die rechte Eroberung des englischen Begriffs scheint die Linken zurück in „deutsche“ Begriffe gedrängt zu haben. Vielleicht wollten sie auch einfach bewusst Anglizismen vermeiden – ein Anliegen, das sonst aber eher rechteren Parteien am Herzen liegt.
Woher die Aufregung rühren könnte, zeigt sich in einem ganz anderen „Gender Gap“, der auf Social Media zu beobachten ist. Betrachtet man, wer geschlechtergerechte Sprache wirklich nutzt, tun sich große Unterschiede zwischen den Parteien auf. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Anzahl der Tweets, in denen das Gendersternchen in Form von „in “ oder „innen“ verwendet wird gesteigert – zumindest bei drei Parteien.
Ganz vorne liegen Grüne und Linke, weniger gendern Abgeordnete der SPD. Auffällig dabei: Seit Beginn des Wahlkamps ist die Nutzung des Gendersternchens bei SPD und Linken wieder deutlich zurückgegangen. Im Wahlkampf möchte man vielleicht keine Wähler*innen verschrecken, die den Genderstern ablehnen. In beiden Parteien hat es in den vergangenen Monaten außerdem heftige Debatten um die sogenannte Identitätspolitik gegeben – in der Linken geführt von Sahra Wagenknecht, in der SPD von Wolfgang Thierse. Auch was geschlechtergerechte Sprache angeht, ist der politische Kurs keineswegs klar.
Findet sich davon auch etwas in den Wahlprogrammen? Die Linke hat als einzige Partei ein explizites Bekenntnis zur geschlechtergerechten Sprache in ihrem Wahlprogramm. Das Gendersternchen nutzen in ihren Programmen Linke, Grüne und SPD - letztere allerdings, ohne inhaltlich viel dazu zu sagen. „Die SPD hat in ihrem Wahlprogramm als einzige Partei einen starken Rückgang von sprachpolitischen Positionen zu verzeichnen“, sagt Lobin. Bei allen anderen Parteien hätten sie zugenommen - wenngleich mit großen inhaltlichen Unterschieden.
Die Analyse ist Teil des Projekts „Social Media Dashboard zur Bundestagswahl 2021“, einem gemeinsamen Forschungsprojekt des Tagesspiegels und Democracy Reporting International. Es wird gefördert von der Stiftung Mercator. In dieser Analyse wurde zusätzlich mit Datenanalysten des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change in Berlin zusammengearbeitet, die seit drei Jahren Posts auf Social Media zu gesellschaftlichen Veränderungen und Klimadebatten analysieren.
Die Daten zu Posts auf Facebook werden über eine Schnittstelle von Crowdtangle abgerufen. Der Analysedienst ist ein Teil von Facebook und stellt diese Daten über Online-Angebote und maschinenlesbare Schnittstellen (APIs) zur Verfügung. Diese werden von uns regelmäßig abgerufen. Die Twitter-Posts werden direkt über die Schnittstelle von Twitter abgerufen.
Die gesammelten Daten werden automatisiert ausgewertet, zumeist mithilfe der Programmiersprache Python. Die Analysedaten werden über einen Tagesspiegel-Server regelmäßig aktualisiert und für die interaktiven Grafiken ausgespielt.
Es werden ausschließlich Daten verarbeitet, die aus öffentlichen Profilen oder Posts kommen. Daten von Nutzer:innen, die ihre Posts nur für Freunde sichtbar teilen, fragen wir weder ab noch können wir sie auswerten. Dadurch ist die Zahl der analysierbaren Posts auf Twitter sehr viel größer als die auf Facebook oder Instagram, wo Nutzer:innen seltener öffentlich posten.
Der Tagesspiegel entwickelt in seinem Tagesspiegel Innovation Lab Darstellungen, Analysen und Datenabfragen. Dabei arbeiten Redakteur:innen, Designer, Datenanalyse-Spezialisten und Softwareentwickler zusammen. Außerdem widmet sich das Team – gemeinsam mit den Politikredakteur:innen und anderen Fachleuten in der Redaktion der Analyse der gewonnenen Daten. Die Analysen erscheinen in Newslettern und der gedruckten Zeitung neben Expert:innenbeiträge, Interviews und Einordnungen zu den Dynamiken des Wahlkampfs auf Social Media.
Democracy Reporting International (DRI) ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz in Berlin, die weltweit demokratische Institutionen und Prozesse analysiert und stärkt. DRI unterhält sieben Länderbüros, die vor Ort mit demokratischen Akteuren zusammenarbeiten. DRI´s Programm “Digitale Demokratie” beobachtet und analyiert in zahlreichen Ländern, ob Wahlkämpfe online fair geführt werden und nimmt zu Fragen der Regulierung Stellung. Mehr unter democracy-reporting.org
Das Projekt wird gefördert durch die Stiftung Mercator, die ihre Rolle folgendermaßen fasst: „Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung mit umfassender wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Weltoffenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Um diese Ziele zu erreichen, fördert und entwickelt sie Projekte, die Chancen auf Teilhabe und den Zusammenhalt in einer diverser werdenden Gesellschaft verbessern. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa will die Stiftung Mercator durch ihre Arbeit stärken, die Auswirkungen der Digitalisierung auf Demokratie und Gesellschaft thematisieren und den Klimaschutz vorantreiben. Die Stiftung Mercator engagiert sich in Deutschland, Europa und weltweit. Dem Ruhrgebiet, Heimat der Stifterfamilie und Stiftungssitz, fühlt sie sich besonders verbunden.“
Die Förderer nehmen keinen Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung oder die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts.