„Krisen zu überstehen gehört zur DNA Berlins.“ So formuliert es Michael Müller am 26. März 2020 in seiner Regierungserklärung. Seit fünf Tagen sind damals Restaurants und Cafés geschlossen, der Regierende Bürgermeister appelliert an den Gemeinschaftssinn der Berliner:innen. 292 Neuinfektionen mit dem Coronavirus sind an diesem Tag gemeldet worden. Es wird der höchste gemeldete Wert an Neuinfektionen in der ersten Welle der Pandemie in Berlin sein.
Knapp ein Jahr später sind die Clubs immer noch zu. Viele Geschäfte, Restaurants und Kneipen sind es wieder. Die knapp 300 Neuinfektionen an einem Tag, die Ende März 2020 noch schockierten, sind längst überholt. Am 12. November meldete das Landesamt für Gesundheit und Soziales 1960 Neuinfektionen an einem Tag – bisher der höchste in Berlin gemeldete Wert.
Seit dem 1. März 2020 haben sich in Berlin 128.943 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert, 2814 sind gestorben. Das sind die Zahlen. Und sonst? Chronik einer Stadt im Jojo-Lockdown.
An diesem Sonntag bricht ein 22 Jahre alter Mann in seiner Wohngemeinschaft in Mitte zusammen. In der Charité wird er positiv auf das Coronavirus getestet. Am nächsten Tag werden zwei weitere Fälle ermittelt. Weil ein Lehrer betroffen ist, wird die Emanuel-Lasker-Oberschule geschlossen. Der Mann war zuvor in Südtirol. Erst am 28. Februar hatte der Berliner Senat nach langem Zögern die Reisemesse ITB abgesagt. 160.000 Besucher:innen sollten ab dem 5. März aus aller Welt nach Berlin kommen – viele Aussteller:innen und Gäste sind längst angereist.
Eine junge Frau, Kontaktperson von Patient Null, sitzt seit fünf Tagen in ihrer Wohnung. Sie hat leichte Corona-Symptome, ist isoliert – nur vom Gesundheitsamt hat sie noch nichts gehört. Die offizielle Zahl der Infizierten liegt zu diesem Zeitpunkt bei 15 Fällen. Schon jetzt sind die Ämter überfordert, Kontaktpersonen zu informieren und rasch zu testen. An der Charité entsteht eine weiße Zeltstadt. Hier wird die zentrale Anlaufstelle für Corona-Verdachtsfälle eingerichtet. Sie ist völlig überlaufen. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) erklärt im Abgeordnetenhaus: Niemand könne die Ausbreitung des Virus stoppen, es gehe nur noch darum, den Ausbruch zu verlangsamen. Sie wird recht behalten.
Das Gesundheitsamt Mitte sucht nach Besucher:innen des Clubs „Trompete“. Ein Infizierter feierte dort. Kurz darauf wird klar: Mindestens 42 Menschen haben sich in dieser Clubnacht infiziert. Clubs sagen ihre Veranstaltungen ab.
Dienstagmorgen, Senatssitzung im Roten Rathaus: Charité-Virologe Christian Drosten ist zu Gast. Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) grüßt demonstrativ mit Handschlag, schildern Teilnehmer:innen. Drosten berichtet in “verstörender Offenheit” über das Virus. Mehr als eine Stunde diskutiert der Senat über ein mögliches Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern:innen. Als Müller anschließend vor die Presse tritt, erklärt er: Ein solches Veranstaltungsverbot sei „unnötig“.
An einem Samstagabend, kurz vor 18 Uhr, verschickt die Senatskanzlei die „Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus in Berlin“. Sämtliche Kultureinrichtungen müssen schließen, genauso alle Sportplätze, Fitnessstudios, Clubs und Bars. Die Verordnung gilt ab sofort. Wenige Stunden später sind zwei Hundertschaften der Polizei besonders in Mitte und Friedrichshain im Einsatz. Doch die Regeln haben sich noch nicht herumgesprochen. Thomas Lengfelder, Geschäftsführer des Berliners Hotel- und Gaststättenverbandes, sagt an diesem Abend: „Völliges Chaos.“ Zwei Tage später werden planbare Operationen in allen Berliner Kliniken abgesagt.
Die meisten Geschäfte werden per Verordnung geschlossen. Offen bleiben nur Lebensmittelläden, Banken, Drogerien und Apotheken. In Panik vor einer Ausgangssperre und kompletten Schließungen hamstern die Menschen: vor allem Klopapier und Konserven. Beides ist in vielen Supermärkten ausverkauft.
Drei Wochen nach Patient Null: In der Gesundheitsverwaltung wird an einer Verordnung für eine “Ausgangssperre” gearbeitet. Täglich verändert sich die politische Lage, dramatische Bilder aus dem italienischen Bergamo schockieren auch in Berlin. Der Senat schließt Cafés und Restaurants, das Abholen von Speisen bleibt erlaubt. Nicht mehr als zehn Personen dürfen sich treffen. Linke und Grüne wehren sich heftig gegen das Wort “Ausgangssperre”, das die Gesundheitssenatorin vorschlägt. Inhaltlich stimmt der Entwurf aber weitgehend mit dem später beschlossenen „Kontaktverbot“ überein.
Berlin will Unternehmen schnell finanziell helfen. Die Server der Investitionsbank Berlin brechen unter der Masse von Anträgen zusammen, in fast 400 Fällen werden die Daten von Antragsteller:innen vertauscht. Bis Ende des Monats sind mehr als 150.000 Anträge eingegangen. Betroffene loben das Verfahren als „unbürokratisch“. In den ersten 48 Stunden zahlt die landeseigene Bank rekordverdächtige 890 Millionen Euro aus. Bis zum 9. April sind 1,6 Milliarden Euro Soforthilfe gezahlt. Seit dem 25. März sinken die Infektionszahlen. Das Schlimmste scheint überstanden.
Anselm Lenz trägt einen Zollstock und Exemplare des Grundgesetzes. Am letzten Samstag im März versammelt sich eine Gruppe um den Verein „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ erstmals vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Das Motto: “Grundrechte verteidigen – sag Nein zur Diktatur”. Das Theater ist verriegelt, Versammlungen sind weitgehend verboten. Diese Demonstration ist einer der ersten Corona-Proteste überhaupt.
Das Kontaktverbot wird in Berlin erstmals verlängert - bis zum 19. April. Jetzt führt der Senat auch Bußgelder für Verstöße ein. Wer im Freien den Mindestabstand von 1,5 Metern nicht einhält, zahlt bis zu 500 Euro Strafe. Es ist aber immerhin wieder erlaubt, sich auf eine Parkbank zu setzen oder sich auf einer Wiese niederzulassen. „Wir werden nicht mit der Stoppuhr neben Menschen stehen, die eine Erholungspause auf einer Bank oder einer Wiese machen, sondern zählen auf deren Vernunft”, sagt Polizeipräsidentin Barbara Slowik dem Tagesspiegel.
Die Zahl der Insass:innen in Berliner Gefängnissen ist mit 3339 Inhaftierten auf einem “historischen Tiefstand”. Das liegt vor allem daran, dass die Ersatzfreiheitsstrafe ausgesetzt wurde. Damit es wegen des Besuchsverbots nicht zu Gefängnisaufständen wie in Italien kommt, erklärt Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne), dürfen Gefangene per Skype mit ihren Familien telefonieren.
500 Menschen versammeln sich auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Die sogenannten Hygiene-Demonstrationen wachsen von Woche zu Woche. Immer stärker mischen sich Reichsbürger und Rechtsextreme unter den Protest. Weil sich die Menschen weigern, die Demonstration aufzulösen, gibt es Festnahmen. Polizist:innen werden angegriffen.
Am Ostersonntag ist es 24 Grad warm. Viele Berlin:innen verbringen die Tage draußen, die Parks sind voll. Die Infektionszahlen steigen in den folgenden Tagen aber trotz Befürchtungen nicht. Der Berliner Senat lehnt eine allgemeine Maskenpflicht ab. In Nordrhein-Westfalen und weiteren Bundesländern öffnen die Geschäfte wieder.
Als letztes Bundesland beschließt der Berliner Senat, dass Geschäfte wieder öffnen. Zoo und Tierpark sollen wieder Besucher:innen einlassen, Demonstrationen werden erlaubt. In Berlin wird eine Maskenpflicht eingeführt – allerdings nur in Bus und Bahn. Die Masken dürfen auch selbstgenäht sein, ein Schal vor dem Gesicht reicht als Schutz. Immer klarer wird, dass die Pandemie nicht so schnell vorüberzieht: Veranstaltungen mit mehr als 5000 Personen werden bis 24. Oktober verboten.
Der Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg stimmt dafür, den Flughafen Tegel für mindestens zwei Monate zu schließen. Wegen der Corona-Krise fliegt kaum noch jemand. Flughafenchef Engelbert Lütke Daldrup argumentiert, so ließen sich mehr als 200.000 Euro am Tag einsparen.
Das Notfallkrankenhaus auf dem Berliner Messegelände ist nach nur vier Wochen Bauzeit angeblich fertig. Erstmal stehen 500 Betten bereit. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht das Vorzeigeprojekt von Berlins Gesundheitssenatorin Kalayci. Tagesspiegel-Recherchen zeigen: Die Klinik ist bislang ein potemkinsches Dorf. Sie hat noch keine Betriebserlaubnis. Von 111 geplanten Beatmungsgeräten gibt es nur zwei.
Trotz Pandemie sind die Straßen in Kreuzberg am 1. Mai voll. Das Wetter ist gut. Linke haben zu kleinen Fahrraddemos aufgerufen. Die Polizei zerstreut die Menschen, indem immer wieder ganze Straßen abgeriegelt werden. Am Abend rasten Linksradikale aus, greifen Polizist:innen an. Die Bilanz: 50 Festnahmen und 100 Identitätsfeststellungen. Für Erschütterung sorgt der Angriff auf ein Kamerateam der ZDF-”Heute-Show”. 15 Vermummte greifen an. Die Meisten entkommen unerkannt. Zwei der Tatverdächtigen stammen aus der linken Szene.
Salomon Kalou, Stürmer von Hertha BSC, veröffentlicht ein Video, wie er in der Mannschaftskabine das halbe Team abklatscht. Damit verstößt er gegen die Hygiene-Regeln, die sich die Bundesliga verordnet hat, um die Saison zu Ende spielen zu dürfen. Kalou und sein Mannschaftskollege Vedad Ibisevic beschweren sich außerdem, wie viel Gehalt ihnen ihr Verein wegen der Corona-Krise gekürzt habe. Kalou wird suspendiert.
Die Stimmung ist aggressiv, Flaschen fliegen. Auf dem Alexanderplatz versammeln sich mehr als 1000 Menschen, um gegen die Corona-Regeln zu demonstrieren. Der Protest ist nicht angemeldet, maximal 50 Personen dürften demonstrieren. Die Menge ruft “Wir alle sind das Volk”, darunter sind Dutzende gewaltbereite Hooligans. Einer der Organisatoren des Protests ruft “Nazis raus” - und wird von der Menge niedergebrüllt.
Die Gesundheitsverwaltung entwickelt die Corona-Ampel. Mittlerweile gilt vor allem der R-Wert, die Reproduktionszahl, als Beleg dafür wie sich Infektionszahlen entwickeln. Er besagt, wie viele andere Personen von einem Infizierten angesteckt werden. Weitere Indikatoren werden die Auslastung der Intensivbetten und die Zahl der Neuinfektionen. Alle drei Werte können grün, gelb oder rot sein – sind zwei Ampeln rot, sollen Regeln verschärft werden. Kalaycis Dauerkonflikt mit den zwölf Amtsärzt:innen eskaliert. Sie seien “fachlich-medizinisch in keiner Weise angehört oder eingebunden” worden, schreiben sie in einem Brief.
Restaurants dürfen ihre Gäste wieder im Innen- und Außenbereich bedienen – unter strengen Regeln. Im Promi-Restaurant Borchardt in Mitte sieht man das offenbar weniger eng. Der Laden ist an diesem Freitagabend übervoll, 300 Gäste sind da. Unter ihnen ist auch FDP-Chef Christian Lindner. Ein Foto zeigt, wie er ohne Maske den Honorarkonsul von Weißrussland umarmt. Lindner entschuldigt sich. Die Inzidenz erreicht mit 3 einen absoluten Tiefstwert.
Seit dem 15. Mai spielt die Bundesliga wieder – vor leeren Rängen. An diesem Wochenende fertigt Hertha BSC Union Berlin im leeren Olympiastadion ab: Mit vier Gegentoren im Gepäck fahren die Köpenicker zurück nach Hause. Die Älteren erinnern sich: Bruno Labbadia ist damals noch Hertha-Trainer.
Hotels, Pensionen und Campingplätze in Berlin und Brandenburg dürfen ihre Betten wieder belegen. Im Umland sind viele Zimmer schnell ausgebucht, die Berliner:innen zieht es ins Grüne. Auch an der Ostsee reihen sich auf den Parkplätzen Berliner Kennzeichen. “Es ist das schlimmste Jahr, das ich jemals miterlebt habe, und ich war auch viele Jahre Hotelier”, sagt Thomas Lengfelder vom Hotel- und Gaststättenverband. In Berlin steigt der Bierkonsum.
Größer als gedacht: Eine als Demonstration zur Rettung der Clubs geplante Bootstour gerät aus dem Ruder. Mehr als 3000 Menschen sammeln sich an den Ufern des Landeswehrkanals und tanzen zum Techno, der von den Booten schallt. Der Höhepunkt der Party findet ausgerechnet vor dem Urban-Krankenhaus in Kreuzberg statt. Der Intensivpfleger Ricardo Lange fragt im Tagesspiegel: „Kann man unsere Arbeit noch mehr verhöhnen?“
Neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass Berlin und Brandenburg durch das Coronavirus nicht mehr Tote als in den Vorjahren verzeichnen. Bislang haben die strengen Regeln eine Übersterblichkeit verhindert. Auch die Grippewelle fiel, mutmaßlich durch die Hygiene-Regeln, in 2020 schwächer aus. Die Inzidenz ist seit Wochen einstellig.
Nach dem Tod des US-Amerikaners George Floyd durch Polizeigewalt demonstrieren auf dem Alexanderplatz bis zu 50.000 Menschen gegen Rassismus und die Polizei. Demonstrant:innen stehen dicht gedrängt, viele tragen keine Schutzmasken. Die Sorglosigkeit nimmt zu. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci betont: “Wir haben mit Erfolg die Neuinfektionen auf ein niedriges Niveau senken können. Das bedeutet nicht, dass die Pandemie vorbei ist.”
Restaurants, Bars und Kneipen dürfen wieder länger als bis 23 Uhr öffnen - die Sperrstunde gilt nicht mehr. Zuvor hatte ein Restaurantbetreiber gegen die Regel geklagt. Der Senat kommt einem Beschluss des Verwaltungsgerichts mit Aufhebung zuvor. Die Infektionszahlen steigen.
Der Tourismus in Berlin liegt völlig brach. Im Juni kommen 78 Prozent weniger Gäste als im Vorjahr. Bei einer Ministerpräsidentenkonferenz werden Reisebeschränkungen für Touristen aus Landkreisen mit einer Inzidenz von mehr als 50 vereinbart. Reisende dürfen nur dann in Hotels oder Ferienwohnungen übernachten, wenn ein maximal 48 Stunden altes ärztliches Attest vorliegt, wonach sie nicht infiziert sind. Ab dem 30. Juni öffnen Kinos unter Auflagen.
Die rasend schnelle Auszahlung der Corona-Hilfen im März wächst zum Finanzskandal heran. Die Anträge wurden kaum geprüft, nicht einmal die Identität der Antragssteller:innen wurde anfangs abgefragt. Vor dem Amtsgericht Tiergarten findet an diesem Freitag der erste Prozess wegen Subventionsbetrug bei Corona-Soforthilfen gegen einen 31 Jahre alten Berliner statt. 660 weitere Verfahren wegen Betrugsverdachts liegen bei der Staatsanwaltschaft.
Seit vier Monaten sind Berlins Clubs geschlossen, ihnen geht das Geld aus. Aus der Spendenkampagne für Berliner Clubs, United We Stream, ist zwar mittlerweile eine globale Kulturplattform für elektronische Musik geworden, die Einnahmen daraus reichen aber kaum. 48 Clubs beantragen deshalb Geld vom Senat. 38 Antragsteller bekommen Mitte Juli im Schnitt rund 81.000 Euro. Darunter sind bekannte Clubs wie das About Blank, Tresor, Schwuz oder Lido.
Die Bundesliga spielt schon seit zwei Monaten, Mannschaftssport im Amateurbereich ist noch immer verboten. Weil der Zorn bei den Vereinen und in der Koalition wächst, unterbricht Sportsenator Andreas Geisel (SPD) an diesem Montag seinen Urlaub: Amateurfußball, Rudern, Kampfsport oder Tanzen werden wieder erlaubt. Berlin ist das letzte Bundesland, in dem solche Verbote überhaupt noch galten.
13 Menschen haben sich nach einer Party mit dem Coronavirus infiziert. Am 10. Juli hatten Hunderte zusammen im “Mio” unter dem Fernsehturm gefeiert. Kontaktnachverfolgung ist kaum möglich, weil Namen und Adressen auf den Gästelisten nicht stimmen. Bei vielen Feiernden ist die völlige Sorglosigkeit zurückgekehrt: An Wochenenden ist es in den Bars der Torstraße wieder ähnlich voll wie vor der Pandemie, es wird getanzt. Das Ordnungsamt kontrolliert nachts kaum, weil der Dienst schon um 22 Uhr endet. Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) droht den Bars mit hohen Bußgeldern und Schließungen.
Fast täglich gibt es jetzt neue Meldungen über illegale Partys in Bars oder Parks. An diesem Wochenende feiern 3000 Menschen in der Neuköllner Hasenheide eine Techno-Party. Dort finden bereits seit April illegale Freiluftfeiern statt – doch sie werden wöchentlich größer. Die Polizei löst die Feier auf. Gesundheitspolitiker warnen vor den “Party-Exzessen”. Aber selbst Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) redet das Risiko einer zweiten Welle in einem Interview klein.
Sie sind früh aufgestanden. Haben ihre Reichsflaggen eingepackt und bunt bemalte Transparente. „Jesus lebt!“, lernen Zuschauer. Und dass die „Corona-Rebellen Düsseldorf“ nach Berlin gekommen sind. Außerdem dass Angela Merkel hinter Gitter gehört: „Sperrt Sie weg!“, steht auf Plakaten. Tausende sogenannte Querdenker laufen unter den Linden entlang bis zur Straße des 17. Juni, demonstrieren gegen die Corona-Regeln. Fast niemand trägt einen Mundschutz, Polizei ist kaum zu sehen. Erste Schätzungen sprechen von 17.000 Menschen bei der Demonstration, später schätzt die Polizei 20.000 Menschen. Die Organisatoren veröffentlichen falsche Bilder und Zahlen: Mit alten Fotos der Loveparade versuchen sie zu belegen, dass mehr als eine Million Menschen protestierten. Später korrigiert die Polizei ihre Zahlen: auf 30.000 Menschen.
Mehr als 100 Pkw und Lastwagen fahren an diesem Donnerstag hupend durch Berlin. Die Schausteller:innen, in normalen Zeiten Spaß-Garanten, machen in Köpenick auf ihre aussichtslose Lage aufmerksam. Sie fordern Volksfeste wieder zu genehmigen, die wegen der Corona-Krise verboten sind.
Ein aufgebrachter Familienvater fordert am Flughafen Tegel kostenlose Corona-Tests für seine Kinder. Als er diese nicht bekommt, stößt er eine Mitarbeiterin der Charité in ein Absperrgitter. Fast täglich ändern sich die Vorschriften, welche Urlauber getestet werden müssen und welche nicht. Die Unsicherheit wächst. Die Test-Stelle wird an diesem Sonntagabend sofort geschlossen.
Die Berlinale-Veranstalter sind sicher: bis zum Frühjahr 2021 ist die Pandemie im Griff. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin sollen 2021 mit Zuschauern stattfinden. Für die Gäste werde die größtmögliche Sicherheit gewährleistet, heißt es. Die 71. Berlinale soll vom 11. bis 21. Februar 2021 stattfinden. Es wird anders kommen.
Drei Polizisten sind es, die noch zwischen den wütenden Demonstranten und dem Inneren des Reichstagsgebäudes stehen. Zehntausende demonstrieren an diesem Tag wieder gegen die Corona-Politik der Regierung. Vor der Reichstagstreppe sammeln sich Reichsbürger, Verschwörungsideologen und Hooligans – irgendwann stürmen sie los. Gestoppt werden sie schließlich von einer Glastür und den drei Beamten. Die Bilder gehen um die Welt. Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist blamiert.
600 Menschen feiern im James-Simon-Park in Mitte, bis die Polizei die Party auflöst. Das Coronavirus breitet sich jetzt vor allem in der Innenstadt aus, Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Neukölln melden immer mehr Infizierte. Gesundheitssenatorin Kalayci macht dafür vor allem Jüngere verantwortlich.
Wie kann die Saison für die Gastronomie noch ein bisschen verlängert werden? Diese Frage beschäftigt die Stadt. Der Bezirk Reinickendorf erlaubt Gastronom:innen Heizpilze, um Gäste auch draußen zu bewirten. Die sind eigentlich seit 2009 wegen ihrer schlechten Klimabilanz fast überall verboten. Das Vorpreschen von Reinickendorf und auch Charlottenburg-Wilmersdorf kritisieren andere Bezirke scharf. Eine gemeinsame – aber unverbindliche – Linie finden die zwölf Bezirke wenige Tage später. Der Kompromiss: Wirt:innen dürfen strombetriebene Wärmequellen anbringen. Heizpilze bleiben untersagt.
Die Gesundheitsämter arbeiten am Limit, jetzt setzt Berlin vermehrt auf die Bundeswehr für die Nachverfolgung von Kontakten. Doch ein Bezirk weigert sich, die Hilfe anzunehmen: Friedrichshain-Kreuzberg – obwohl die Zahl der Infizierten dort besonders hoch ist. Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) kritisiert: „Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass Rot-Rot-Grün es eher riskiert, dass es rasant steigende Infektionen gibt, als sich von der Bundeswehr helfen zu lassen. Und das ausschließlich aus ideologischen Gründen.“
„Es muss was passieren in Berlin“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Das Vorgehen des Senats im Kampf gegen die steigenden Infektionszahlen hält sie für ungenügend. Einen Tag später verschärft Berlin seine Regeln: Feiern im Freien mit maximal 50 Teilnehmer:innen, in Innenräumen mit 25, dazu eine Maskenpflicht in Büros. Die Kritik hört trotzdem nicht auf. „Berlin wird zum Gesundheitsrisiko für die ganze Republik“, poltert CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.
Die Sieben-Tage-Inzidenz springt mit 30,3 erstmals seit Einführung der Corona-Ampel im Mai über den kritischen Wert von 30. Wenige Tage später wird der bis dahin seit Pandemiebeginn bestehende Höchststand von 292 Neuinfektionen in 24 Stunden übertroffen. An diesem Tag zitiert der Tagesspiegel Angela Merkel mit dem Satz: „Wir wissen, dass vor uns die schwierigere Zeit liegt.“
Ein anonymer Hinweisgeber meldet der Polizei am Abend, dass sich eine vierköpfige Familie aus Berlin in einem Ferienhaus in Neuruppin eingemietet habe. Weil die Kinder schon schlafen und das Haus in der Einöde steht, darf die Familie aber bleiben. Seit heute gilt in Brandenburg ein Beherbergungsverbot für Urlauber:innen aus Berlin und anderen Corona-Hotspots mit einer Inzidenz über 50. Beim Beherbergungsverbot herrscht Wildwuchs: Einige Bundesländer verbannen alle Berliner:innen, andere nur Menschen aus besonders betroffenen Bezirken wie Mitte und Neukölln.
Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke) schlägt einen zweiwöchigen Lockdown im November vor. Damit will er einen „ungeplant langen Lockdown“, der seiner Einschätzung nach rund um Weihnachten eintreten würde, verhindern. Er wird dafür – in eigenen Worten – „für bekloppt erklärt“. Auch Rathauschef Müller winkt ab: So eine Maßnahme sei nur bei einem medizinischen Notstand sinnvoll.
Das Verwaltungsgericht Berlin gibt einem Eilantrag von elf Berliner Wirt:innen gegen die Sperrstunde statt. Sie war erst eine Woche zuvor wieder eingeführt worden. Begründung: Von Gaststätten gehe kein „bedeutsames Infektionsgeschehen“ aus. Aber nicht alle Lokale dürfen nun länger öffnen, sondern nur jene elf. Freuen dürfen sich hingegen Reisewillige: Pünktlich zum Beginn der Berliner Herbstferien kippen Gerichte das Beherbergungsverbot in Sachsen, Baden-Württemberg und Niedersachsen, weitere Länder folgen.
Der Senat ringt um Verschärfungen der Corona-Regeln. Michael Müller wird emotional: „Ich lasse mich hier nicht weiter beschimpfen. Wir sind nicht die einzigen Doofen“, sagt er zur Kritik aus der Bundespolitik. Und, mit Blick auf die Sperrstunde: „Meine Sorge ist, dass einige sich auch noch das letzte Stückchen Egoismus einklagen werden.“ Berlin weitet an diesem Tag die Maskenpflicht im Freien aus. Außerdem beschränkt der Senat private Treffen in Innenräumen auf fünf Personen oder zwei Haushalte.
Nach massiver Kritik verschärft Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) zum Schulstart die Corona-Maßnahmen. Schulen starten heute mit strengerer Maskenpflicht. Für sie gilt nun der Stufenplan – eine weitere Ampel, von Grün für Regelbetrieb bis Rot für ein Wechselmodell. Er legt jede Woche für jede Schule fest, welche Corona-Regeln dort gelten.
Die Gesundheitsämter kommen – jetzt auch offiziell – mit der Kontaktverfolgung nicht mehr hinterher. Berliner:innen sind deshalb von nun an verpflichtet, sich nach einem positiven Testergebnis in Selbstisolation zu begeben und ihre Kontaktpersonen selbst zu informieren, anstatt auf den Anruf vom Amt zu warten. Die Ressourcen der Ämter konzentriere man auf „vulnerable Gruppen“, sagt Dilek Kalayci: Hochbetagte, chronisch Kranke, Obdachlose, Heimbewohner:innen.
Erstmals registrieren Berlins Gesundheitsämter mehr als 1000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages, nämlich 1040. Erst jetzt beschließt Berlin, die Personenobergrenze für Veranstaltungen in Innenräumen auf „nur noch“ 300 Menschen zu senken. Die Berliner SPD beharrt darauf, ihren Parteitag mit Hunderten Teilnehmer:innen am Wochenende im Neuköllner Hotel Estrel wie geplant stattfinden zu lassen. Erst nach massiver Kritik lenken die Sozialdemokraten ein.
Ein einsamer November beginnt: Restaurants, Bars und Kneipen werden geschlossen, dürfen nur außer Haus verkaufen. Auch Theater, Opern, Konzerthäuser und Museen müssen schließen. Schulen, Kitas und der Einzelhandel bleiben hingegen offen. Michael Müller wirbt in einer Regierungserklärung um Unterstützung: „Jede Person ist angehalten, ihre Kontakte auf das Minimum zu reduzieren.“
Wegen der steigenden Zahl an Corona-Patient:innen weist der Senat Krankenhäuser erneut an, planbare Operationen zu verschieben. Nur wenn diese Eingriffe abgesagt würden, seien ausreichend Pflegekräfte frei, um die steigende Zahl an Covid-19-Patient:innen zu versorgen. Die Krankenhausleitungen fürchten finanzielle Einbußen und Menschen, die auf eine Operation warten, verharren in einer zermürbenden Situation.
In 94 Prozent der Corona-Fälle lässt sich die Infektionsquelle laut Gesundheitsverwaltung nicht mehr feststellen. Die Kontaktverfolgung als Mittel der Pandemiebekämpfung ist ausgeschaltet.
Gesundheitsstaatssekretär Martin Matz (SPD) kündigt an, dass in Berlin sechs Corona-Impfzentren entstehen sollen. Der Senat geht davon aus, dass dort circa 20.000 Menschen pro Tag geimpft werden können. Das Mainzer Unternehmen Biontech und der US-Pharmakonzern Pfizer veröffentlichen einen Zwischenbericht, der eine hohe Wirksamkeit des Impfstoffs verspricht.
1960 neuregistrierte Fälle an einem Tag – der traurige Höchststand des Jahres ist an diesem Donnerstag erreicht. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt erstmals über 200. Der Teil-Lockdown zeigt kaum Wirkung, ein Ende der Maßnahmen ist nicht in Sicht.
Vor mehr als einem Monat hat sich eine Pflegerin des Kursana-Heims in Lichtenberg mit dem Coronavirus infiziert – erst jetzt wird bekannt, dass die Situation seitdem außer Kontrolle geraten ist. Mindestens 47 Bewohner:innen, Mitarbeitende und Kontaktpersonen haben sich angesteckt, 15 Menschen sterben. Warum das Haus nicht schon eher evakuiert wurde, ist unklar. Gesundheitssenatorin Kalayci spricht von „menschlichem Versagen“ – und zieht den Zorn der Pflegebranche auf sich, die sich pauschal verurteilt vorkommt. Die Leiterin des Lichtenberger Hauses wird abgesetzt, Kalayci verpflichtet das Personal in Heimen zum Tragen von FFP2-Masken.
Etwa 5000 Menschen wollen im Regierungsviertel mit Gewalt die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag verhindern. Hooligans werfen Flaschen, Steinen und Pyrotechnik und versuchen, Polizist:innen die Helme vom Kopf zu ziehen. AfD-Abgeordnete schleusen Demonstrierende in den Bundestag, wo sie unter anderem CDU-Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier beschimpfen. Nach drei Stunden löst die Polizei die Versammlung am Brandenburger Tor wegen Missachtung der Abstandsregeln auf. Als mehrere Tausend Menschen sich weigern, das Areal zu verlassen, fährt die Polizei Wasserwerfer auf – sie kommen zum ersten Mal seit 2013 zum Einsatz. Sie sprüht in die Luft, zielt nicht mit Druckstrahl auf die Protestierenden: bloß keine Bilder, die das Narrativ von Polizeigewalt füttern.
Maximal fünf Personen aus zwei Haushalten dürfen sich noch treffen. Schärfer als im Rest der Republik soll das auch über die Feiertage gelten. Der Senat weitet die Maskenpflicht an Schulen und auf alle belebten Straßen und Plätze aus. Auf die Frage, wie diese Orte definiert werden, sagt Michael Müller: „Das sagt Ihnen doch die Lebenserfahrung.“
Die Plätze auf den Intensivstationen werden knapper. Die Corona- Ampel zeigt erstmals in der Pandemie auch für das dritte Kriterium „Bettenbelegung“ Rot. 25,3 Prozent der Betten auf den Intensivstationen sind nun mit Covid-19-Patient:innen belegt. In Berlin gibt es 1500 Intensivbetten, an Beatmungsplätzen, Räumen und Technik fehlt es nicht - aber Personal ist knapp. Viele Ärzt:innen und Pfleger:innen müssen selbst in Quarantäne.
Immer mehr private Firmen bieten Corona-Schnelltests an – auch das KitKat an der Köpenicker Straße, normalerweise ein Fetisch-Club, wird zum Testzentrum. Berliner:innen, die den Preis von 25 bis 80 Euro nicht scheuen, lassen sich in den Einrichtungen für Verwandtenbesuche oder Ausflüge „freitesten“. Der Wildwuchs unter den Zentren ist groß, getestet wird auch in Vorgärten und Privatwohnungen. Die Gesundheitsverwaltung verweigert jeden Kommentar zu den Angeboten.
Michael Müller sieht keinen Bedarf, die Corona-Regeln anzupassen. Der Senat stehe „fortlaufend in engem Kontakt miteinander, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können“, sagt Müller dem Tagesspiegel. Zwei Tage später schließt er im ARD-Morgenmagazin weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht mehr aus. Wieder 48 Stunden später macht Müller es amtlich: Berlin will wieder dichtmachen. „Wir werden den Einzelhandel runterfahren müssen“, sagt er. Auch Schulen sollen schließen. Der Teil-Lockdown ist endgültig gescheitert.
Die Infektionsfälle in Berliner Pflegeheimen steigen rasant, von 1021 Mitte November auf 2050 Anfang Dezember. Bekannt wird, dass sich mehr als jeder zweite Corona-Tote – 492 von 899 Verstorbenen – in einem Pflegeheim angesteckt hat. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den über 90-Jährigen liegt bei 834,3. Der Senat verschärft erst jetzt die Regeln für Pflegeheime um Tests für Personal und Besucher:innen. Für viele zu spät.
Es ist der letzte Tag, an dem Geschenkeshoppen im Laden möglich ist. Morgen startet der harte Lockdown, die meisten Einzelhandelsgeschäfte schließen. In den engen Gängen vieler Kaufhäuser herrscht Chaos – und das auf dem Höhepunkt der Pandemie. Am selben Tag meldet die Senatsgesundheitsverwaltung 53 neue Corona-Tote, so viele wie noch nie.
Für Tausende Schüler:innen beginnt der erste Tag im Homeschooling mit Problemen. Nachdem Bildungssenatorin Scheeres von „einer guten Vorbereitung” auf die Schulschließungen gesprochen hatte, versagt die Plattform „Lernraum Berlin” schon morgens. „Derzeit kommt es zu Verzögerungen bei der Anmeldung. Es wird mit Hochdruck an einer Lösung gearbeitet“, twittert die Bildungsverwaltung. Behoben ist die Störung auch am Abend nicht. Und sie wird wieder auftreten. Und wieder.
Berlin feiert Weihnachten – mit „Gans to Go“, maximal fünf Personen und einem für die ganze Republik ausgesprochenen Appell, nicht zu verreisen. Ein Fest, anders als all die Jahre zuvor – für manche ein Horror, für andere Entspannung.
Gertrud Haase, 101 Jahre alt, ist der erste Mensch, der in Berlin geimpft wird. Senatorin Dilek Kalayci spricht von „einem großen Tag für Berlin“, Michael Müller von „Licht am Ende des Tunnels“. Zuerst sollen Bewohner:innen von Pflegeheimen, das Personal der Einrichtungen und über 90-Jährige geimpft werden. Mobile Teams und das erste von sechs Impfzentren, die „Arena“ in Treptow, starten mit den Immunisierungen. Für die Eröffnung weiterer Zentren fehlt Impfstoff. Auch die Arena stellt den Betrieb nach wenigen Tagen wieder ein – weil sich über den Jahreswechsel zu wenig Menschen impfen lassen wollen.
Die Bilanz des vergangenen Monats ist niederschmetternd: 1271 Menschen sind 2020 in Berlin an oder mit einer Corona-Infektion gestorben. Am 30. November waren es noch 565, knapp die Hälfte. Silvester in Berlin fällt dieses Jahr leiser aus: Feuerwerkskörper dürfen nicht verkauft werden, in 56 Verbotszonen darf nicht geknallt werden. Frohes Neues.
Der Senat will die Schulen wiedereröffnen. Ab 11. Januar sollen rund 100.000 Schüler:innen der Abschlussjahrhänge in halben Lerngruppen in die Schule kommen. Dafür hatten sich zuvor Vertreter:innen aus Eltern- und Schülerschaft, Schulleitungen, Gewerkschaften, Medizin und Wissenschaft ausgesprochen. Nach dem Beschluss gerät Bildungssenatorin Sandra Scheeres unter Druck: Es gibt Brandbriefe und eine Onlinepetition mit Zehntausenden Unterschriften gegen die Rückkehr zum Präsenzunterricht. Die Proteste haben nach drei Tagen Erfolg: Mindestens bis 25. Januar wird es beim Digitalunterricht bleiben. Ein chaotischer Kurswechsel, der Eltern und Schulen kurzfristig zum Umplanen zwingt – den aber nicht Scheeres allein zu verantworten hat.
Ein junger Mann, der in Großbritannien studiert, will an Weihnachten seine Familie in Steglitz-Zehlendorf besuchen – einen Tag später sind alle Familienmitglieder krank. Tests auf das Coronavirus fallen positiv aus. Weil der Student von der Insel eingereist war, gehen die Proben zur Sequenzierung. Ergebnis: Der Student und seine Angehörigen sind mit der hochansteckenden Coronavirus-Variante B.1.1.7 infiziert. Es sind die ersten bekannten Fälle in Berlin.
Die Gesundheitsverwaltung meldet an diesem Mittwoch 76 Todesfälle infolge einer Ansteckung mit dem Coronavirus – ein neuer Höchststand, der seitdem nicht überboten wurde. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt an diesem Tag bei 199,2 – ganz knapp unter der 200er-Marke. Ab der dürfen sich Berliner:innen laut Senatsbeschluss nur noch 15 Kilometer aus der Stadt heraus bewegen.
Die Eröffnung von Berlins zweitem Impfzentrum im Erika-Heß-Eisstadion in Wedding beginnt mit einer Panne. Die 2400 Impfdosen der Firma Moderna, die hier erstmals verwendet werden sollen, kommen in Pappkartons verpackt in Berlin an, die Kühlkette soll nicht eingehalten worden sein. Wenig später dann die Entwarnung: Die Lieferung ist verwendbar. Dennoch werden im Eisstadion am ersten Tag noch Biontech-Dosen gespritzt.
„Niemandem hier macht das Spaß“, sagt Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) zu den neuen Beschlüssen. Der ursprünglich bis zum 31. Januar vorgesehene Lockdown wird bis 14. Februar verlängert. Künftig müssen im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen medizinische Masken getragen werden. Nur noch Menschen mit systemrelevanten Berufen dürfen ihre Kinder in die Kita geben. Die Liste mit den Jobs ist aber 28 Seiten lang und kostet Eltern und Kitaleitungen in den kommenden Tagen einige Nerven.
Um eine Ausbreitung der Coronavirus-Mutante B.1.1.7 zu verhindern, wird das Humboldt-Klinikum in Reinickendorf unter Quarantäne gestellt. 20 Mutations-Fälle werden entdeckt – 14 Patient:innen und sechs Mitarbeiter:innen, die Zahl wird in den kommenden Tagen noch steigen. Rund 1500 Personen aus Ärzteschaft, Pflege, Verwaltung und Technik müssen sich isolieren und dürfen nur zur Arbeit und zurück pendeln. Dafür stellt die BVG ihr Sammeltaxi “BerlKönig” zur Verfügung.
Aus der Willy-Brandt-Schule in Gesundbrunnen werden 242 Tablets gestohlen. Die Geräte waren von der Bildungsverwaltung für bedürftige Schüler:innen angeschafft worden. Auf Twitter schreibt die Polizei: “Der wirtschaftliche Schaden von 100.000 Euro war nicht die Gesamtsumme. Ihr habt Kindern die Chance genommen, digital ihre Zukunft zu gestalten.” Zwei Wochen später verhaftet die Polizei einen Mitarbeiter einer Reinigungsfirma, der wohl mit einem Generalschlüssel in den Raum kam.
Bund und Länder verlängern den Lockdown bis zum 7. März, beschließen aber auch erste Öffnungsschritte: Kinder können in Berlin ab dem 22. Februar schrittweise in Schulen und Kitas zurückkehren. Die Ministerpräsident:innen setzen sich damit gegen Kanzlerin Angela Merkel durch, die Öffnungen erst später zulassen will. Frisuren werden plötzlich politisch: Friseur:innen dürfen schon ab dem 1. März aufmachen.
Im vierten Impfzentrum im ehemaligen Flughafen Tegel kommt erstmals der Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca zum Einsatz - und zwar für Menschen, die jünger als 65 Jahre sind. Zuerst sollen vor allem Pflegekräfte und Ärzte damit geimpft werden. Sie wollen aber oft nicht, weil Astrazeneca etwas weniger wirksam sein soll. In Tegel herrscht deshalb an vielen Tagen Leere, Impftermine werden abgesagt. Regierungschef Müller mahnt kurz darauf: “Wer den Impfstoff nicht will, hat erst einmal seine Chance vertan.”
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in Berlin auf den Tiefststand seit dem 7. Oktober gesunken: Mit einem Wert von 55 gerät die Grenze von 50 in Sichtweite.
Rund acht Prozent der Berliner Unternehmen stehen nach einem Jahr Pandemie vor der Insolvenz. Einzelhändler:innen oder Kleinunternehmer:innen warten auf Corona-Hilfen der Bundesregierung. Von den beantragten Novemberhilfen sind 40 Prozent noch nicht ausbezahlt worden, von den Dezemberhilfen knapp die Hälfte nicht. Berlin will helfen: Hausbanken erhalten künftig eine 90-prozentige Bürgschaft der Bürgschaftsbank Berlin Brandenburg für Zwischenfinanzierungen bis zu 250.000 Euro. Erhält ein Unternehmen die beantragten Bundeshilfen, soll das Geld zurückgezahlt werden.
„Wir sind in der dritten Welle“, hat Kanzlerin Angela Merkel gesagt. Deutschland verzeichnet wieder mehr Neuinfektionen, in Berlin ist die Inzidenz auf 65,0 gestiegen. Die Länder drängen dennoch auf Lockerungen, um die gebeutelte Bevölkerung und die Wirtschaft zu entlasten. Aus dem Lagebericht der Gesundheitsverwaltung geht hervor, dass in Berlin inzwischen 110.145 Menschen vollständig gegen Corona immunisiert sind, 57.952 weitere haben bereits die erste von zwei Impfungen erhalten. Es war ein Jahr, das diesen Lagebericht zur täglichen Weissagung für die Stadt machte. An seinen Zahlen hängen Hoffnungen und Ängste, Schicksale und Verluste. An diesem Freitag steht dort: Seit Beginn der Pandemie sind 128.943 Menschen an Corona erkrankt, davon gelten 120.638 als genesen. 2814 Berliner:innen sind gestorben.