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Sexuelle Übergriffe gegen Frauen

Das Schweigen der Männer

Fast jede zweite Frau in Deutschland ist Opfer von sexueller Belästigung – noch heute. Ändern kann sich das erst, wenn sich auch Männer ändern.
Fast jede zweite Frau in Deutschland ist Opfer von sexueller Belästigung – noch heute. Ändern kann sich das erst, wenn sich auch Männer ändern.

Natalia S. war 14, als sie von der U-Bahn-Station Neukölln die Treppe hochging und ihr ein fremder Mann an den Hintern fasste. Sowas passiert täglich in Deutschland. Fast jede zweite Frau ist hier schon einmal Opfer sexualisierter Belästigung geworden, ergab eine repräsentative Umfrage des Instituts Yougov aus dem Jahr 2017. Anzügliche Blicke in der U-Bahn, Begrabschtwerden beim Feiern – das sind keine Einzelfälle.

In den vergangenen Jahren haben Frauen immer wieder öffentlich über Übergriffe gesprochen, sich selbst als Opfer geoutet, ihre Scham überwunden, alte Wunden wieder aufgerissen. Eine Debatte mit Folgen ist daraus nie erwachsen. #Aufschrei und #MeToo haben nicht gereicht. Die Anklage mutiger Frauen trifft auf das Schweigen der Männer. Wie lässt es sich brechen?

Der Tagesspiegel hat daher nicht nur Frauen gesucht, die von ihren Erlebnissen berichten, sondern auch Männer, die ihr eigenes Verhalten reflektieren.

Geschlechterrollen zwischen Belastung und Belästigung

Die Berichte der Männer darin sind keine Abbitte, aber der Beginn von etwas Neuem: Ehrlichkeit. Nicht jeder Mann ist ein Macho, nicht jeder Mann schläft aus Profilierungsgründen mit vielen Frauen und prahlt damit, nicht jeder Mann wird übergriffig. Trotzdem geht Belästigung hauptsächlich von Männern aus – 98 Prozent der Tatverdächtige bei sexueller Belästigung sind männlich. Die Gründe dafür sind erforscht und reichen tief hinein in den kulturellen Code unserer Gesellschaft – und da wird es kompliziert.

Männer haben ein Gefühl, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. „Die Polarisierung von Stereotypen ist ein Problem“, sagt Monika Schröttle. Die Soziologin leitet seit Jahren Studien, die sich mit sexualisierter Gewalt an Frauen und Männern beschäftigen. „Wir können das Problem nicht lösen, wenn Männern nicht erlaubt wird, nicht männlich zu agieren“, sagt sie.

Macher gegen brave Oberfläche

In dem Buch „Warum Feminismus gut für Männer ist“ beschreibt der Genderforscher Jens van Tricht, dass das, was unseren Vorstellungen nach „männlich“ und „weiblich“ ausmacht, vor allem von der Gesellschaft geprägt wird. Männer sollen stark und dominant sein. Sie sollen Frauen beschützen und sich selbst verteidigen können. Männer sollen durchsetzungsfähige Macher sein. Es wird eher akzeptiert, wenn Männer Gewalt ausüben, weil das „männlich“ ist. Außerdem, so schreibt es van Tricht: „Männer lernen, Frauen als Lustobjekt zu sehen, auf das sie ein Anrecht haben, und dass grenzüberschreitendes Verhalten zum Mann-Sein dazu gehört und somit von ihnen erwartet wird.“

Frauen dagegen wird unter anderem vermittelt, sie sollen möglichst nett, freundlich und verständnisvoll sein. Die Gesellschaft erwartet, dass sie viel auf ihr Aussehen achten. Sie sollen nicht frech sein oder laut, stattdessen brav und nicht auffallen. Die perfekte Opferrolle.

Die Opfer sind meist weiblich

Es gibt keine allgemeingültige Definition von sexualisierter Belästigung. Die werde es auch nie geben, weil es immer auf das Empfinden des Opfers ankomme, sagt die Soziologin Schröttle. Immerhin: Seit Ende 2016 gilt sexuelle Belästigung als eigener Straftatbestand. Die Dunkelziffer von nicht angezeigten Fällen ist hoch. Wie hoch, weiß niemand so genau. Und doch zeichnen die Statistiken des Bundeskriminalamtes ein deutliches Bild.

Fälle von sexueller Belästigung nach Geschlecht
Die Grafik zeigt nur die Fälle von sexueller Belästigung nach §184i StGB, die bei der Polizei in Deutschland angezeigt wurden.
Daten zu §184i sind erst seit 2017 verfügbar. Die Zahlen geben die Zahl der „Fälle“ an, nicht die Zahl der Personen. Wurde eine Person mehrfach Opfer und erstattete mehrfach Anzeige, so wird sie auch mehrfach gezählt.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/BKA

Aber inwiefern tragen extreme Rollenbilder dazu bei, dass es Sexismus und sexualisierte Belästigung in Deutschland gibt? Wenn Männer in Umkleidekabinen ungehindert abfällig über Frauen sprechen, führt das dazu, dass sie Frauen im nächsten Schritt abwertend behandeln? Und wäre das anders, wenn sie in der Kabine von anderen Männern für ihre Aussagen kritisiert würden?

Auf jeden Fall machen sich Männer durch ihr stillschweigendes Akzeptieren von Sexismus und Gewalt am Unrecht mitschuldig, so schreibt es van Tricht, auch wenn die meisten Männer keine Gewalttaten begingen. „Viele Männer äußern sich nur ungern darüber, wenn sie Zeuge von Gewalt gegen Frauen geworden sind, vor allem, wenn es sich bei dem Aggressor um einen Freund, Kollegen, Mannschaftskameraden oder Verwandten handelt“, schreibt van Tricht. Das ist menschlich und trifft auch auf Frauen und andere Gruppen zu, die sich nicht trauen, Menschen für ihr Verhalten zu kritisieren. Trotzdem ist genau diese Kritik notwendig.

Eine Pyramide der Gewalt

In seinem Buch entwirft er eine Pyramide, zuoberst stehen jene Taten, gegen die sich die Gesellschaft besonders vehement auflehnt. Ganz unten steht Sexismus. Darüber stehen ungewollte Berührungen, zu Missbrauch, Vergewaltigung. Mord hat van Tricht an die Spitze gestellt. In Deutschland sind Missbrauch und Vergewaltigung inzwischen gesellschaftlich geächtet. Dabei sind Vergewaltigungen in der Ehe erst seit 1997, seit gerade einmal 23 Jahren, Straftatbestand im Strafgesetzbuch.

Die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes zeigt: Die Täter sind nahezu ausschließlich männlich – sowohl bei sexueller Belästigung wie auch bei anderen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Tatverdächtige nach Geschlecht
Die Grafik zeigt alle Tatverdächtigen in Fällen von sexuellem Missbrauch, sexuellen Übergriffen, sexueller Nötigung, Vergewaltigung und sexueller Belästigung, die bei der Polizei in Deutschland angezeigt wurden.
Enthalten sind Fälle der Paragraphen §§ 174, 174a, 174b, 174c, 177, 178, 184i, 184j StGB. Ist ein Tatverdächtiger in mehreren Fällen verdächtig, so taucht er in der Statistik nur einmal auf.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/BKA

„Belästigende Männer“, sagt Sozialwissenschaftlerin Schröttle, „wissen sehr genau, wenn sie eine Grenze überschreiten.“ Beispielsweise, wenn sie als Chef einer Mitarbeiterin zu nahe kommen. „Die Männer, die sagen, sie trauen sich nicht mehr mit Frauen in den Aufzug, weil ihnen etwas vorgeworfen werden könnte, sind eher welche, die zu Belästigung tendieren.“ Oft würden Männer subtil vorgehen und Frauen belästigen, von denen sie wenig Widerstand erwarten. Praktikantinnen, schüchterne Frauen, Frauen mit Behinderung.

Rechtsprechung
Was ist strafbar, welche Möglichkeiten haben Opfer?

Was ist strafbar?

Seit Ende 2016 ist sexuelle Belästigung ein eigener Straftatbestand, § 184i im Strafgesetzbuch (StGB). So heißt es dort: „Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften dieses Abschnitts mit schwererer Strafe bedroht ist. In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.“

Weitere Straftaten gegen die „sexuelle Selbstbestimmung“, wie der strafrechtliche Überbegriff lautet, finden sich im Gesetz in den Paragraphen 174 bis 184j, StGB. Darunter fallen schwere Fälle wie sexueller Missbrauch und Vergewaltigung, aber auch die Straftatbestände Exhibitionistische Handlungen und Erregung öffentlichen Ärgernisses (§§ 183, 183a StGB). Im Gesetz heißt es dazu: „Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Auch Beleidigungen können eine sexuelle Grundlage haben. Dann fallen sie unter Umständen unter den Straftatbestand der Beleidigung in Paragraph 185 StGB.

Was können betroffene Frauen tun?

Viele Frauen schrecken vor einer Anzeige und dem darauf folgenden Prozess zurück, weil er belastend sein kann. Sollte die Betroffene sich für eine Anzeige entscheiden, so rät Anwältin Christina Clemm so schnell wie möglich zur Polizei zu gehen oder eine Anzeige im Internet zu stellen. „Wichtig ist, dass sie [die Betroffene], wenn sie Sorge um ihre Sicherheit hat, nicht ihre private Adresse angibt, sondern beispielsweise die ihres Arbeitgebers“, sagt Clemm. Denn der Beschuldigte hat das Recht auf Akteneinsicht. Und in der Akte ist die Adresse zu finden. Jede Betroffene solle sich direkt nach der Situation alle Details notieren und gegebenenfalls Beweise wie Fotos sicherstellen, sagt Clemm weiter. „Die Polizei kann den Täter möglicherweise durch Personenbeschreibung oder Videoüberwachung finden.“

Sollte es dann zu einem Gerichtsprozess kommen, steht es, wie häufig bei Sexualdelikten, Aussage gegen Aussage. Dann überprüft das Gericht, welcher Aussage gefolgt werden kann. Etwa, ob es ein Motiv der Falschbezichtigung oder Wahrnehmungsprobleme gibt. „Bei sogenannten Fremdtätern ist eine Chance auf Verurteilung nicht gering, wenn hinreichend Beweise hinsichtlich der Identitätsfeststellung vorliegen“, sagt Clemm.

Wie könnte man Frauen diesen Prozess erleichtern?

„Ganz ersparen werden wir den Prozess den Betroffenen nicht können“, sagt Clemm. Wichtig wäre, die Verfahren schneller zu beenden. „Wir bräuchten viel mehr Kapazitäten dafür bei den Ermittlungsbehörden und in der Justiz und bessere Ausbildung und Fortbildung. Es gibt zu wenig Wissen über das Ausmaß, Täterstrukturen, Traumatisierung und sonstige Folgen der Taten.“

Nichts gehört und nichts gesehen

Ein weiterer großer Faktor, der sexualisierte Belästigungen begünstigt, ist die Unwissenheit derer, die nicht belästigen. Die Männer, die selbst nicht belästigen, sind oft nicht für das Thema sensibilisiert. Während Frauen in Selbstverteidigungskurse geschickt werden, Pfefferspray geschenkt bekommen und mit Freundinnen Strategien entwerfen, um beim Feiern nicht belästigt zu werden, haben nicht-belästigende Männer damit wenig Berührungspunkte. Oft sind es bestimmte Orte, die Frauen nachts alleine meiden, während Männer darüber nicht nachdenken müssen. Auch in Berlin gibt es Hotspots, an denen besonders viele Übergriffe stattfinden.

Sexuelle Belästigung in Berlin
Die Karte zeigt, wo der Polizei 2019 die meisten Fälle von sexueller Belästigung gemeldet wurde.
Vorsicht bei der vorschnellen Interpretation der Polizeistatistik! Der Fakt, dass an einem Ort mehr Straftaten gemeldet werden muss nicht bedeuten, dass es in den anderen Gebieten tatsächlich weniger Fälle gibt. Möglicherweise wurden sie da schlicht weniger häufig gemeldet. Manche Expert*innen gehen beispielsweise davon aus, dass solche Fälle in wohlhabenderen Gegenden seltener bemerkt oder angezeigt werden.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/Polizei Berlin

Sexualisierte Belästigung geschieht oft unbemerkt von Dritten. Ein Mann kann in der Disko einer Frau an den Po fassen, ohne, dass es Nebenstehende mitbekommen. Wenn in der Erziehung, der Schule und den Medien nicht thematisiert wird, wo sexualisierte Gewalt beginnt und welche psychischen Langzeitfolgen sie für die Betroffenen hat, nehmen Männer eigene Fehler und die anderer Männer außerdem seltener wahr. Nach Aufschrei und #MeToo war die Verwunderung vieler Männer über die Dimension des Problems groß. Die von Frauen nicht.

Vieles kann belästigend sein

Ein Mann fährt in Charlottenburg auf einem Fahrrad an mir vorbei und sagt: du bist aber geil zum Arschficken.
(Ronja K, 30, Charlottenburg )
Ich wurde im X11er Bus am Bahnhof Zoo begrapscht.
(Geraldine, 30, Steglitz)
Angetatsche im Club, anzügliche Sprüche, Dickpics, Beleidigungen bei Neinsagen auf Anmachen…
(Katja G, 34, Pankow)
Masturbation in der U-Bahn und an einem See, zwischen die Beine grabschen beim Laufen, hinterherrufen, Geräusche machen.
(Josephin B, 27 Lichtenberg)
Ein Typ hat mich nach meiner Nummer gefragt. Weil ich sie ihm nicht geben wollte, ist er mir bis nach Hause gefolgt. Ich habe dann die Tür zugemacht und ihn stehen lassen.
(Lena, 16, Steglitz)
Mir wurde auf einem KIZ Konzert unter den Rock und in den Schritt gegriffen. Ich war 16.
(Amber, 28, Kreuzberg)
Winter, übervoller Bus TXL. Ein Mann reibt seinen Penis an mir.
(Romina, Moabit, 31 )
Ein Mann wollte mich nachts in den Fahrstuhl drängen. Nach Anschreien ist er abgehauen…
(Romina, Moabit, 31 )
Mit 15 hat mir im Sommer ein Mann in Pankow an die Brüste gefasst, als ich auf den Bus wartete.
(Doreen R, Treptow-Köpenick, 29 )
Ich saß tagsüber in der U1 zwischen Möckernbrücke und Görli und neben mir stand ein Typ. Plötzlich wollte er mich wie aus dem nichts küssen.
(Luisa M, 30, Friedrichshain )
Mir wurde gesagt, ich muss nur gescheit gebumst werden, dann stehe ich auch wieder auf Männer.
(Sandra U, 33 )
Ich wurde von der U-Bahn bis nach Hause verfolgt. Konnte gerade noch die Tür schließen.
(Helen, 24, Kreuzberg )
In der Bahn hat ein Typ sein Glied ausgepackt und gefragt, ob ich ihn anfassen will.
(Magdalena B, 25, Treptow )
Der Taxifahrer hat mir an den Oberschenkel gefasst. Seitdem habe ich Angst, Taxis zu nehmen.
(Inga S, 36, Kreuzberg )
Ein Mann hat mich auf der Karl-Liebknecht-Straße in Mitte nach der Uhrzeit (15 Uhr) gefragt. Und hat sich dabei einen runter geholt…
(Nicole R. 27, Prenzlauer Berg )
In der U-Bahn masturbierte ein Mann unter vorgehaltener Aktentasche vor mir.
(Yvonne B, Steglitz, 49 )
Einfach im Club angefasst worden. Mehrfach…
(Sarah H, 37, Wilmersdorf )
Als ich elf war, ist ein Mann am Nollendorfplatz in Schöneberg endlos neben mir hergelaufen und hat mich nach Sex gefragt.
(Nura E, 21, Wilmersdorf )
Ko-Tropfen im Club. Auf offener Straße gesagt bekommen, dass man Sex mit mir möchte.
(Mona A. 28, Pankow )
Ein Mann hat in der S1 neben mir gesessen und auf einmal seinen Penis rausgeholt.
(Laura S, 25, Wilmersdorf )
Grabschen, Dickpicks und sexistische Kommentare.
(Jessica K, 28, Lichtenberg )
Mir wurde von hinten unter den Rock gefasst.
(Lara S. 32 Reinickendorf )
Ich wurde im Bus bedrängt.
(Annabel W, 24 ,Tegel )
Nachts in Mitte angegriffen und bedrängt – durch Zivilcourage ist nicht mehr passiert…
(Angelina J., 24, Prenzlauer Berg )
Ich bin mittags in Reinickendorf nach Hause gelaufen. Ein Typ kam näher und sagte: Hübscher Popo.
(Alexandra S, 21, Reinickendorf )
Ich war circa 14 Jahre alt, da hat mir ein Typ, als ich von der U-Bahnstation Neukölln die Treppe hochging, an den Hintern gefasst…
(Natalia S, 25, Neukölln )
Ich wurde in der U6 gegen meinen Willen fotografiert. Als ich den Wagon gewechselt habe, wurden mir sexualisierte Ausdrücke hinterhergerufen.
(Anna M, 22, Kreuzberg )
Taxifahrer sagte beim Warten auf den Bus in der Nähe vom U-Bahnhof Bülowstraße zu mir „anfassen geht auch“. Ich war 18 und trug Jeans und Pullover.
(Jorina D. 29, Charlottenburg )
Alleine in der U-Bahn nachts – angeguckt von Männern, als ob ich Freiwild wäre.
(Juliane, Prenzlauer Berg )
Einmal wurde ich im U-Bahnhof Nauener Platz von einer Gruppe eingekreist und von einem Mann aus der Runde an die Wand gedrängt, wo er sich an mir rieb. Macht Angst, versetzt in Panik, wirkt lange nach...
(Hannah F., 36, Wedding )
In einem Club voller Leute hat mir ein gleichaltriger Mann an den Po gepackt, mich angegrinst und ist im Getümmel verschwunden.
(Jana C, 33, Essen )
Ich war 16 oder 17, in der U-Bahn rutschte ein Mann nah an mich heran und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.
(Hannah B, 24, Reinickendorf )
Mein Nachbar hat sich selbst in meine Wohnung eingeladen, mich an sich gezogen und mich auf die Wange geküsst.
(Natalie Z, 30, Zehlendorf )
Mir hat ein Mann von hinten in den Schritt gefasst und danach an seiner Hand gerochen. Das war in der Hermannstr., Höhe Boddinstr.
(Katharina S, 29, Kreuzberg )
Ich arbeite im Einzelhandel in Tempelhof-Schöneberg und habe einen Kunden gefragt, ob er noch weitere Wünsche hat. Seine Antwort war: „Ja, aber die kannst du mir nicht hier vor allen Leuten erfüllen.“
(Tabea R, 19, Tempelhof-Schöneberg )

Frauen wiederum wissen oft nicht, was sie im Fall einer Belästigung tun sollen. Beziehungsweise wann es sich überhaupt um eine Belästigung handelt. Bei einer Instagram-Umfrage im Rahmen dieser Recherche über den Tagesspiegel-Account gab es ein außergewöhnlich großes Feedback von jungen Frauen, die sich Berichterstattung zu diesem Thema wünschten und ihre Erfahrungen teilten.

Welche Belästigungen geschehen besonders häufig?
Die Yougov-Umfrage von 2017 zeigt, dass Frauen eine Vielzahl an Situationen erlebt haben, in denen sie sich belästigt fühlen. Kommentare über das Aussehen ist die häufigste Situation, die angegeben wurde.
Mehrfachnennungen waren möglich. Diese Frage wurde nur Teilnehmerinnen angezeigt.
Quelle: YouGov

Trotzdem konnten weder diese Frauen noch weitere Interviewpartner und Partnerinnen sagen, was genau sexualisierte Belästigung ist, ab wann sie strafbar ist und wann sie etwas dagegen sagen dürfen. Der Sexualkundeunterricht in Schulen beschränkt sich oft darauf, wie Sexualität und Verhütung praktisch funktioniert, thematisiert aber selten gesellschaftliche Rollenbilder, sexuellen Konsens oder sexualisierte Belästigung.

Definitionen
Sexismus, sexuelle Belästigung, sexualisierte Gewalt?

Was ist Sexismus?

Das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend schreibt in einer Studie: „Sexismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene Formen der Übergriffigkeit und Herabwürdigung des anderen Geschlechts.“

Was ist sexuelle Belästigung?

Dazu heißt es auf der Homepage des Familienminsteriums: „Sexuelle Belästigung reicht von weniger schwerwiegenden Formen wie Anstarren, anzüglichen Bemerkungen oder Belästigungen per Telefon oder im Internet über unerwünschte sexualisierte Berührungen, sexuelle Bedrängnis bis hin zu sexualisierten körperlichen Übergriffen. Je nach Form, Kontext und Ausmaß können sexuelle Belästigungen strafbare Handlungen sein, zum Beispiel Beleidigung, sexuelle Nötigung oder Nachstellung.“

Es gibt also viele Formen von sexueller Belästigung, aber nur wenige sind strafbar. Anzügliches Anstarren oder unangebrachte Komplimente beispielsweise sind gesellschaftlich nicht erwünscht, können aber nicht angezeigt werden. Allerdings kann ein sexistischer Witz gegenüber einer Arbeitskollegin zu arbeitsrechlichen Konsequenzen führen, zum Beispiel zu einer Abmahnung – ganz zu schweigen davon, dass er Kolleginnen den Tag versaut.

Die Berliner Strafrechtsanwältin Christina Clemm vertritt vor Gericht regelmäßig Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Sie sagt dazu: „Meines Erachtens brauchen wir nicht weitere Straftatbestände, es muss nicht immer alles strafbar sein. Sexuelle Belästigung und Sexismus müssen vor allem gesellschaftlich bekämpft werden.” Es gebe viele belästigende Situationen, die weit unterhalb einer Straftat geschehen. Deshalb brauche es auch bei den Männern ein großes Umdenken, immerhin gehe Sexismus und Gewalt gegen Frauen vor allem von Männern aus. „Das Strafrecht ist die ultima ratio, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Letztlich brauchen wir aber eine klare gesellschaftliche Meinung die beinhaltet, dass wir bestimmtes Verhalten nicht dulden.“

Was ist der Unterschied zwischen sexueller Belästigung und sexualisierte Gewalt?

Clemm differenziert klar zwischen den beiden Begriffen: „Sexuelle Belästigung ist der rechtliche Ausdruck. Sexualisierte Gewalt wäre aber der richtige Ausdruck.“ Denn es gehe nicht um Sex, sondern um eine massive Erniedrigung durch sexuelle Handlungen. Deshalb, so erklärt die Anwältin, würde dieser Begriff von Opferschutzverbänden und Feministinnen genutzt.

Diese kann durch Blicke, Worte, das Missachten der persönlichen Distanz geschehen, sie muss nicht immer strafbar sein. Und genau dort beginnt die Grauzone, bei der sich viele Frauen nicht trauen, etwas zu sagen. Wenn sie in öffentlichen Verkehrsmitteln angestarrt oder von Kollegen im Büro berührt werden, sagen sie oft nichts, obwohl sie sich dadurch unwohl fühlen.

„Niemand möchte der Außenseiter sein, die Spaßbremse, die jemanden in der Gruppe kritisiert“, sagt Schröttle. Dafür brauche es Mut. Aber oft seien andere in der Gruppe froh, weil sie zum Beispiel sexistische Witze auch nicht lustig fänden. „Wenn einer damit beginnt, ist schon sehr viel geholfen. Potentielle Täter belästigen zumindest nicht in der Gegenwart anderer, wenn sie wissen, dass sie dafür geächtet werden.“ Sowohl Männer als auch Frauen können Ungleichbehandlungen also verhindern, indem sie vermeintliche Kleinigkeiten ansprechen.

Frauen haben den Anfang gemacht. Wo bleibt der Aufschrei der Männer?

Beratungsstellen
Wo Frauen und Männer Hilfe finden

Welche Anlaufstellen gibt es für betroffene Frauen?

LARA Krisen- und Beratungszentrum Das Zentrum bietet persönliche und telefonische Beratung und Krisenintervention für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen in Berlin, aber auch E-Mail-Beratung und Kurzzeittherapie, auch in Gruppen. Außerdem gibt es Rechtsberatung sowie eine Begleitung bei Anzeige und Prozess. Die Angebote sind kostenlos und auf Wunsch anonym.

Website: lara-berlin.de
Telefon: 030 216 88 88

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ Das bundesweites Beratungsangebot richtet sich an Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten.

Website: hilfetelefon.de
Telefon: 08000 116 016

Opfer-Telefon Weisser Ring e. V. Der Weisse Ring e. V. bietet Opfern von Verbrechen, Kriminalität und Gewalt, aber auch sexueller Belästigung emotionale Unterstützung, klärt sie über ihre Rechte auf und verweist auf weitere Hilfeangebote. Das Opfer-Telefon des Weissen Rings ist täglich zwischen 07.00 und 22.00 Uhr zu erreichen.

Website: weisser-ring.de
Telefon: 116 006

Beratungsstellen des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe Im Bundesverband der Frauenberatungsstellen sind rund 200 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen zusammengeschlossen. Sie leisten in Deutschland den hauptsächlichen Anteil der ambulanten Beratung und Hilfestellung für weibliche Opfer von Gewalt. Auf der Webseite findet man Beratungsstellen im eigenen Umkreis.

Website: frauen-gegen-gewalt.de

Welche Anlaufstellen gibt es für betroffene Männer?

Tauwetter

Tauwetter bietet Beratungen für männliche Opfer von sexualisierter Gewalt an. Beratungen finden per Telefon, per Brief oder Mail oder im direkten Gespräch statt. Bei Tauwetter beraten Männer und Frauen. Die offene Erstberatung führt aber immer ein Mann durch, der Telefondienst wird abwechselnd von allen in der Beratung tätigen Mitarbeitenden durchgeführt.

Website: tauwetter.de
Telefon: 030 693 80 07

Welche Hilfsangebote gibt es für (potentielle) Täter?

Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden!”

Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ bietet deutschlandweit ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot für Menschen, die therapeutische Hilfe suchen, weil sie sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und darunter leiden.

Website: kein-taeter-werden.de
Telefon: 030 450 529 450

Hilfeportal Sexueller Missbrauch

Auf den Seiten des Hilfeportal Sexueller Missbrauch findet sich eine Übersicht mit Beratungsstellen in ganz Deutschland, die mit erwachsenen Sexualstraftätern arbeiten. Auch zwei Stellen in Berlin sind dabei. (Stand: 2019)

Hier geht es zur Übersicht.

Was können Männer und Frauen tun, die sexualisierte Belästigung in ihrem Umfeld wahrnehmen?

Wie man ein Verbündeter gegen sexualisierte Gewalt wird, erklärt das Netzwerk „Unser Campus“ in diesem Artikel.

Die Autorinnen und Autoren

Selina Bettendorf
Recherche & Text
Sidney Gennies
Redigatur
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Helena Wittlich
Grafiken & Produktion
Veröffentlicht am 18. Januar 2020.