Sexuelle Übergriffe gegen Frauen:
Das Schweigen der Männer

Fast jede zweite Frau in Deutschland ist Opfer von sexueller Belästigung – noch heute. Ändern kann sich das erst, wenn sich auch Männer ändern.
Fast jede zweite Frau in Deutschland ist Opfer von sexueller Belästigung – noch heute. Ändern kann sich das erst, wenn sich auch Männer ändern.

Natalia S. war 14, als sie von der U-Bahn-Station Neukölln die Treppe hochging und ihr ein fremder Mann an den Hintern fasste. Sowas passiert täglich in Deutschland. Fast jede zweite Frau ist hier schon einmal Opfer sexualisierter Belästigung geworden, ergab eine repräsentative Umfrage des Instituts Yougov aus dem Jahr 2017. Anzügliche Blicke in der U-Bahn, Begrabschtwerden beim Feiern – das sind keine Einzelfälle.

In den vergangenen Jahren haben Frauen immer wieder öffentlich über Übergriffe gesprochen, sich selbst als Opfer geoutet, ihre Scham überwunden, alte Wunden wieder aufgerissen. Eine Debatte mit Folgen ist daraus nie erwachsen. #Aufschrei und #MeToo haben nicht gereicht. Die Anklage mutiger Frauen trifft auf das Schweigen der Männer. Wie lässt es sich brechen?

Der Tagesspiegel hat daher nicht nur Frauen gesucht, die von ihren Erlebnissen berichten, sondern auch Männer, die ihr eigenes Verhalten reflektieren.

Geschlechterrollen zwischen Belastung und Belästigung

Die Berichte der Männer darin sind keine Abbitte, aber der Beginn von etwas Neuem: Ehrlichkeit. Nicht jeder Mann ist ein Macho, nicht jeder Mann schläft aus Profilierungsgründen mit vielen Frauen und prahlt damit, nicht jeder Mann wird übergriffig. Trotzdem geht Belästigung hauptsächlich von Männern aus – 98 Prozent der Tatverdächtige bei sexueller Belästigung sind männlich. Die Gründe dafür sind erforscht und reichen tief hinein in den kulturellen Code unserer Gesellschaft – und da wird es kompliziert.

Männer haben ein Gefühl, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. „Die Polarisierung von Stereotypen ist ein Problem“, sagt Monika Schröttle. Die Soziologin leitet seit Jahren Studien, die sich mit sexualisierter Gewalt an Frauen und Männern beschäftigen. „Wir können das Problem nicht lösen, wenn Männern nicht erlaubt wird, nicht männlich zu agieren“, sagt sie.

Macher gegen brave Oberfläche

In dem Buch „Warum Feminismus gut für Männer ist“ beschreibt der Genderforscher Jens van Tricht, dass das, was unseren Vorstellungen nach „männlich“ und „weiblich“ ausmacht, vor allem von der Gesellschaft geprägt wird. Männer sollen stark und dominant sein. Sie sollen Frauen beschützen und sich selbst verteidigen können. Männer sollen durchsetzungsfähige Macher sein. Es wird eher akzeptiert, wenn Männer Gewalt ausüben, weil das „männlich“ ist. Außerdem, so schreibt es van Tricht: „Männer lernen, Frauen als Lustobjekt zu sehen, auf das sie ein Anrecht haben, und dass grenzüberschreitendes Verhalten zum Mann-Sein dazu gehört und somit von ihnen erwartet wird.“

Frauen dagegen wird unter anderem vermittelt, sie sollen möglichst nett, freundlich und verständnisvoll sein. Die Gesellschaft erwartet, dass sie viel auf ihr Aussehen achten. Sie sollen nicht frech sein oder laut, stattdessen brav und nicht auffallen. Die perfekte Opferrolle.

Die Opfer sind meist weiblich

Es gibt keine allgemeingültige Definition von sexualisierter Belästigung. Die werde es auch nie geben, weil es immer auf das Empfinden des Opfers ankomme, sagt die Soziologin Schröttle. Immerhin: Seit Ende 2016 gilt sexuelle Belästigung als eigener Straftatbestand. Die Dunkelziffer von nicht angezeigten Fällen ist hoch. Wie hoch, weiß niemand so genau. Und doch zeichnen die Statistiken des Bundeskriminalamtes ein deutliches Bild.

Fälle von sexueller Belästigung nach Geschlecht
Die Grafik zeigt nur die Fälle von sexueller Belästigung nach §184i StGB, die bei der Polizei in Deutschland angezeigt wurden.
Daten zu §184i sind erst seit 2017 verfügbar. Die Zahlen geben die Zahl der „Fälle“ an, nicht die Zahl der Personen. Wurde eine Person mehrfach Opfer und erstattete mehrfach Anzeige, so wird sie auch mehrfach gezählt.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/BKA

Aber inwiefern tragen extreme Rollenbilder dazu bei, dass es Sexismus und sexualisierte Belästigung in Deutschland gibt? Wenn Männer in Umkleidekabinen ungehindert abfällig über Frauen sprechen, führt das dazu, dass sie Frauen im nächsten Schritt abwertend behandeln? Und wäre das anders, wenn sie in der Kabine von anderen Männern für ihre Aussagen kritisiert würden?

Auf jeden Fall machen sich Männer durch ihr stillschweigendes Akzeptieren von Sexismus und Gewalt am Unrecht mitschuldig, so schreibt es van Tricht, auch wenn die meisten Männer keine Gewalttaten begingen. „Viele Männer äußern sich nur ungern darüber, wenn sie Zeuge von Gewalt gegen Frauen geworden sind, vor allem, wenn es sich bei dem Aggressor um einen Freund, Kollegen, Mannschaftskameraden oder Verwandten handelt“, schreibt van Tricht. Das ist menschlich und trifft auch auf Frauen und andere Gruppen zu, die sich nicht trauen, Menschen für ihr Verhalten zu kritisieren. Trotzdem ist genau diese Kritik notwendig.

Eine Pyramide der Gewalt

In seinem Buch entwirft er eine Pyramide, zuoberst stehen jene Taten, gegen die sich die Gesellschaft besonders vehement auflehnt. Ganz unten steht Sexismus. Darüber stehen ungewollte Berührungen, zu Missbrauch, Vergewaltigung. Mord hat van Tricht an die Spitze gestellt. In Deutschland sind Missbrauch und Vergewaltigung inzwischen gesellschaftlich geächtet. Dabei sind Vergewaltigungen in der Ehe erst seit 1997, seit gerade einmal 23 Jahren, Straftatbestand im Strafgesetzbuch.

Die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes zeigt: Die Täter sind nahezu ausschließlich männlich – sowohl bei sexueller Belästigung wie auch bei anderen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Tatverdächtige nach Geschlecht
Die Grafik zeigt alle Tatverdächtigen in Fällen von sexuellem Missbrauch, sexuellen Übergriffen, sexueller Nötigung, Vergewaltigung und sexueller Belästigung, die bei der Polizei in Deutschland angezeigt wurden.
Enthalten sind Fälle der Paragraphen §§ 174, 174a, 174b, 174c, 177, 178, 184i, 184j StGB. Ist ein Tatverdächtiger in mehreren Fällen verdächtig, so taucht er in der Statistik nur einmal auf.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/BKA

„Belästigende Männer“, sagt Sozialwissenschaftlerin Schröttle, „wissen sehr genau, wenn sie eine Grenze überschreiten.“ Beispielsweise, wenn sie als Chef einer Mitarbeiterin zu nahe kommen. „Die Männer, die sagen, sie trauen sich nicht mehr mit Frauen in den Aufzug, weil ihnen etwas vorgeworfen werden könnte, sind eher welche, die zu Belästigung tendieren.“ Oft würden Männer subtil vorgehen und Frauen belästigen, von denen sie wenig Widerstand erwarten. Praktikantinnen, schüchterne Frauen, Frauen mit Behinderung.

Rechtsprechung

Nichts gehört und nichts gesehen

Ein weiterer großer Faktor, der sexualisierte Belästigungen begünstigt, ist die Unwissenheit derer, die nicht belästigen. Die Männer, die selbst nicht belästigen, sind oft nicht für das Thema sensibilisiert. Während Frauen in Selbstverteidigungskurse geschickt werden, Pfefferspray geschenkt bekommen und mit Freundinnen Strategien entwerfen, um beim Feiern nicht belästigt zu werden, haben nicht-belästigende Männer damit wenig Berührungspunkte. Oft sind es bestimmte Orte, die Frauen nachts alleine meiden, während Männer darüber nicht nachdenken müssen. Auch in Berlin gibt es Hotspots, an denen besonders viele Übergriffe stattfinden.

Sexuelle Belästigung in Berlin
Die Karte zeigt, wo der Polizei 2019 die meisten Fälle von sexueller Belästigung gemeldet wurde.
Vorsicht bei der vorschnellen Interpretation der Polizeistatistik! Der Fakt, dass an einem Ort mehr Straftaten gemeldet werden muss nicht bedeuten, dass es in den anderen Gebieten tatsächlich weniger Fälle gibt. Möglicherweise wurden sie da schlicht weniger häufig gemeldet. Manche Expert*innen gehen beispielsweise davon aus, dass solche Fälle in wohlhabenderen Gegenden seltener bemerkt oder angezeigt werden.
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik/Polizei Berlin

Sexualisierte Belästigung geschieht oft unbemerkt von Dritten. Ein Mann kann in der Disko einer Frau an den Po fassen, ohne, dass es Nebenstehende mitbekommen. Wenn in der Erziehung, der Schule und den Medien nicht thematisiert wird, wo sexualisierte Gewalt beginnt und welche psychischen Langzeitfolgen sie für die Betroffenen hat, nehmen Männer eigene Fehler und die anderer Männer außerdem seltener wahr. Nach Aufschrei und #MeToo war die Verwunderung vieler Männer über die Dimension des Problems groß. Die von Frauen nicht.

Vieles kann belästigend sein

Ein Mann fährt in Charlottenburg auf einem Fahrrad an mir vorbei und sagt: du bist aber geil zum Arschficken.
(Ronja K, 30, Charlottenburg )
Ich wurde im X11er Bus am Bahnhof Zoo begrapscht.
(Geraldine, 30, Steglitz)
Angetatsche im Club, anzügliche Sprüche, Dickpics, Beleidigungen bei Neinsagen auf Anmachen…
(Katja G, 34, Pankow)
Masturbation in der U-Bahn und an einem See, zwischen die Beine grabschen beim Laufen, hinterherrufen, Geräusche machen.
(Josephin B, 27 Lichtenberg)
Ein Typ hat mich nach meiner Nummer gefragt. Weil ich sie ihm nicht geben wollte, ist er mir bis nach Hause gefolgt. Ich habe dann die Tür zugemacht und ihn stehen lassen.
(Lena, 16, Steglitz)
Mir wurde auf einem KIZ Konzert unter den Rock und in den Schritt gegriffen. Ich war 16.
(Amber, 28, Kreuzberg)
Winter, übervoller Bus TXL. Ein Mann reibt seinen Penis an mir.
(Romina, Moabit, 31 )
Ein Mann wollte mich nachts in den Fahrstuhl drängen. Nach Anschreien ist er abgehauen…
(Romina, Moabit, 31 )
Mit 15 hat mir im Sommer ein Mann in Pankow an die Brüste gefasst, als ich auf den Bus wartete.
(Doreen R, Treptow-Köpenick, 29 )
Ich saß tagsüber in der U1 zwischen Möckernbrücke und Görli und neben mir stand ein Typ. Plötzlich wollte er mich wie aus dem nichts küssen.
(Luisa M, 30, Friedrichshain )
Mir wurde gesagt, ich muss nur gescheit gebumst werden, dann stehe ich auch wieder auf Männer.
(Sandra U, 33 )
Ich wurde von der U-Bahn bis nach Hause verfolgt. Konnte gerade noch die Tür schließen.
(Helen, 24, Kreuzberg )
In der Bahn hat ein Typ sein Glied ausgepackt und gefragt, ob ich ihn anfassen will.
(Magdalena B, 25, Treptow )
Der Taxifahrer hat mir an den Oberschenkel gefasst. Seitdem habe ich Angst, Taxis zu nehmen.
(Inga S, 36, Kreuzberg )
Ein Mann hat mich auf der Karl-Liebknecht-Straße in Mitte nach der Uhrzeit (15 Uhr) gefragt. Und hat sich dabei einen runter geholt…
(Nicole R. 27, Prenzlauer Berg )
In der U-Bahn masturbierte ein Mann unter vorgehaltener Aktentasche vor mir.
(Yvonne B, Steglitz, 49 )
Einfach im Club angefasst worden. Mehrfach…
(Sarah H, 37, Wilmersdorf )
Als ich elf war, ist ein Mann am Nollendorfplatz in Schöneberg endlos neben mir hergelaufen und hat mich nach Sex gefragt.
(Nura E, 21, Wilmersdorf )
Ko-Tropfen im Club. Auf offener Straße gesagt bekommen, dass man Sex mit mir möchte.
(Mona A. 28, Pankow )
Ein Mann hat in der S1 neben mir gesessen und auf einmal seinen Penis rausgeholt.
(Laura S, 25, Wilmersdorf )
Grabschen, Dickpicks und sexistische Kommentare.
(Jessica K, 28, Lichtenberg )
Mir wurde von hinten unter den Rock gefasst.
(Lara S. 32 Reinickendorf )
Ich wurde im Bus bedrängt.
(Annabel W, 24 ,Tegel )
Nachts in Mitte angegriffen und bedrängt – durch Zivilcourage ist nicht mehr passiert…
(Angelina J., 24, Prenzlauer Berg )
Ich bin mittags in Reinickendorf nach Hause gelaufen. Ein Typ kam näher und sagte: Hübscher Popo.
(Alexandra S, 21, Reinickendorf )
Ich war circa 14 Jahre alt, da hat mir ein Typ, als ich von der U-Bahnstation Neukölln die Treppe hochging, an den Hintern gefasst…
(Natalia S, 25, Neukölln )
Ich wurde in der U6 gegen meinen Willen fotografiert. Als ich den Wagon gewechselt habe, wurden mir sexualisierte Ausdrücke hinterhergerufen.
(Anna M, 22, Kreuzberg )
Taxifahrer sagte beim Warten auf den Bus in der Nähe vom U-Bahnhof Bülowstraße zu mir „anfassen geht auch“. Ich war 18 und trug Jeans und Pullover.
(Jorina D. 29, Charlottenburg )
Alleine in der U-Bahn nachts – angeguckt von Männern, als ob ich Freiwild wäre.
(Juliane, Prenzlauer Berg )
Einmal wurde ich im U-Bahnhof Nauener Platz von einer Gruppe eingekreist und von einem Mann aus der Runde an die Wand gedrängt, wo er sich an mir rieb. Macht Angst, versetzt in Panik, wirkt lange nach...
(Hannah F., 36, Wedding )
In einem Club voller Leute hat mir ein gleichaltriger Mann an den Po gepackt, mich angegrinst und ist im Getümmel verschwunden.
(Jana C, 33, Essen )
Ich war 16 oder 17, in der U-Bahn rutschte ein Mann nah an mich heran und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.
(Hannah B, 24, Reinickendorf )
Mein Nachbar hat sich selbst in meine Wohnung eingeladen, mich an sich gezogen und mich auf die Wange geküsst.
(Natalie Z, 30, Zehlendorf )
Mir hat ein Mann von hinten in den Schritt gefasst und danach an seiner Hand gerochen. Das war in der Hermannstr., Höhe Boddinstr.
(Katharina S, 29, Kreuzberg )
Ich arbeite im Einzelhandel in Tempelhof-Schöneberg und habe einen Kunden gefragt, ob er noch weitere Wünsche hat. Seine Antwort war: „Ja, aber die kannst du mir nicht hier vor allen Leuten erfüllen.“
(Tabea R, 19, Tempelhof-Schöneberg )

Frauen wiederum wissen oft nicht, was sie im Fall einer Belästigung tun sollen. Beziehungsweise wann es sich überhaupt um eine Belästigung handelt. Bei einer Instagram-Umfrage im Rahmen dieser Recherche über den Tagesspiegel-Account gab es ein außergewöhnlich großes Feedback von jungen Frauen, die sich Berichterstattung zu diesem Thema wünschten und ihre Erfahrungen teilten.

Welche Belästigungen geschehen besonders häufig?
Die Yougov-Umfrage von 2017 zeigt, dass Frauen eine Vielzahl an Situationen erlebt haben, in denen sie sich belästigt fühlen. Kommentare über das Aussehen ist die häufigste Situation, die angegeben wurde.
Mehrfachnennungen waren möglich. Diese Frage wurde nur Teilnehmerinnen angezeigt.
Quelle: YouGov

Trotzdem konnten weder diese Frauen noch weitere Interviewpartner und Partnerinnen sagen, was genau sexualisierte Belästigung ist, ab wann sie strafbar ist und wann sie etwas dagegen sagen dürfen. Der Sexualkundeunterricht in Schulen beschränkt sich oft darauf, wie Sexualität und Verhütung praktisch funktioniert, thematisiert aber selten gesellschaftliche Rollenbilder, sexuellen Konsens oder sexualisierte Belästigung.

Definitionen

Diese kann durch Blicke, Worte, das Missachten der persönlichen Distanz geschehen, sie muss nicht immer strafbar sein. Und genau dort beginnt die Grauzone, bei der sich viele Frauen nicht trauen, etwas zu sagen. Wenn sie in öffentlichen Verkehrsmitteln angestarrt oder von Kollegen im Büro berührt werden, sagen sie oft nichts, obwohl sie sich dadurch unwohl fühlen.

„Niemand möchte der Außenseiter sein, die Spaßbremse, die jemanden in der Gruppe kritisiert“, sagt Schröttle. Dafür brauche es Mut. Aber oft seien andere in der Gruppe froh, weil sie zum Beispiel sexistische Witze auch nicht lustig fänden. „Wenn einer damit beginnt, ist schon sehr viel geholfen. Potentielle Täter belästigen zumindest nicht in der Gegenwart anderer, wenn sie wissen, dass sie dafür geächtet werden.“ Sowohl Männer als auch Frauen können Ungleichbehandlungen also verhindern, indem sie vermeintliche Kleinigkeiten ansprechen.

Frauen haben den Anfang gemacht. Wo bleibt der Aufschrei der Männer?

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