Praktisch vom Küchentisch aus – fast die Hälfte (47,1 Prozent) der Wahlberechtigten entschied sich bei den letzten Bundestagswahlen für die Briefwahl, bei den Landtagswahlen in Brandenburg am Sonntag waren es 32,2 Prozent.
Was kaum jemand weiß: Schätzungsweise jeder fünfzigste abgeschickte Brief landet in keinem Parteibalken, keiner Wahlbeteiligung. Betroffen sind ausschließlich ungültige Stimmen. Bei der vergangenen Bundestagswahl wurden Hunderttausende ungültige Stimmen nicht gezählt, bei der Brandenburg-Wahl dürften es Tausende gewesen sein. Das geht aus Datenanalysen von Wissenschaftlern hervor.
Berechnungen des Tagesspiegel Innovation Labs zufolge waren bei der vergangenen Bundestagswahl wohl rund 430.000 Stimmen betroffen. Bei Landtagswahlen sind es – je nach Bevölkerung des Bundeslands – Tausende bis Zehntausende. Auch bei der Wahl in Brandenburg am Sonntag dürften rund Zehntausend Briefwahlstimmen nicht in die Statistik eingegangen sein.
Der Grund: Ist eine Briefwahlstimme ungültig, wird in vielen Fällen der Brief zurückgewiesen, statt als ungültig gezählt zu werden. Das ist im Gesetz so vorgesehen. „Zurückgewiesen“ wird ein Brief, wenn ein Wahlhelfer den Brief zwar öffnet, aber den blauen Stimmzettelumschlag nicht in die Urne wirft, weil etwas an dem Brief ungültig ist. Dann geht er in keine Statistik ein: Es ist, als hätte die Person nicht gewählt.
Wie viele Menschen betroffen sind, ist weitgehend unbekannt. Denn eine offizielle Statistik darüber, wie viele Wahlbriefe betroffen sind, gibt es nicht. Die Bundeswahlleitung teilt auf Anfrage lediglich mit, dass bei Bundestagswahlen fünf Prozent der ausgegebenen Wahlbriefe nicht zurückgeschickt werden. Allerdings liege „keine Aufschlüsselung darüber vor“, wie viele Absender davon nicht wählten und wie viele es zwar versuchten, aber zurückgewiesen wurden.
Um herauszufinden, wie groß das Problem ist, hat Dominic Nyhuis, Professor für Quantitative Methoden der Politikwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover, 2021 Wahlniederschriften von 68 Wahlen in 31 kreisfreien Städten Deutschlands ausgewertet, darunter 25 Landtags- und sieben Bundestagswahlen. Denn in den einzelnen Wahllokalen notieren die Mitarbeiter, wie viele Briefe sie zurückgewiesen haben. Die Daten werden bloß von niemandem zusammengetragen.
„Von allen Wahlbriefen, die die Wähler abschicken, werden rund zwei Prozent einfach nicht berücksichtigt“, sagt Nyhuis. In seinem wissenschaftlichen Artikel zur „Dunkelziffer ungezählter Briefwahlstimmen“ von 2021 heißt es, das sei eine konservative Schätzung.
Die Bundeswahlleiterin schreibt, sie könne die von den Forschern genannten Zahlen „weder bestätigen noch dementieren“. Das Phänomen bestätigt sie aber: „Zurückgewiesene Briefe nach Satz 2“ würden „nicht in die Wahlbeteiligung eingerechnet“. Diese Wähler „werden so gezählt, als hätten sie nicht an der Wahl teilgenommen.“
Wie kann das sein? Tatsächlich basiert das auf einem Paragrafen im Bundeswahlgesetz, in dem steht, wann ein Brief zurückgewiesen werden soll.
Eigentlich soll das Gesetz verhindern, dass Menschen bei der Wahl betrügen. Wenn jemand etwa Briefwahlunterlagen einsendet, aber den Wahlschein behält, kann er theoretisch mit dem Schein in ein Wahllokal gehen und noch einmal wählen. Das Zurückweisen des Briefes verhindert das. Dass in der Folge auch Stimmen nicht gezählt werden, die bloß versehentlich ungültig sind, ist ein Nebeneffekt des Gesetzes.
Aus den Datenerhebungen von Dominic Nyhuis geht hervor, was am häufigsten dazu führt, dass Briefwahlstimmen zurückgewiesen werden:
Ist eine Stimme aus anderen Gründen ungültig – etwa, weil jemand auf einen Stimmzettel zwei Kreuze macht, auf den nur eines gehört –, geht das regulär als ungültige Stimme in die Statistik ein.
Brisant sind die Zahlen nicht nur, weil es demnach weniger Nichtwähler gibt als gedacht. Es bedeutet auch, dass die Briefwahl nicht so gut funktioniert wie angenommen. „Die Briefwahl ist ein Wahlverfahren, das mehr Fehler produziert als bekannt“, folgert Nyhuis aus seinen Analysen.
Problembewusstein scheint es jedoch keines zu geben. Der Bericht der Bundeswahlleitung zur Bundestagswahl 2021 lobt die niedrige Ungültig-Quote bei den Briefwahlen, der „um 0,5 bzw. 0,6 Prozentpunkte unter dem der Urnenwählenden“ liege. Möglicherweise liege das daran, „dass sie ihren Stimmzettel in Ruhe in ihrer vertrauten Umgebung ausfüllen können“, heißt es weiter.
Von den ungezählten Stimmen ist in dem Bericht keine Rede. Nyhuis geht auf Basis seiner Berechnungen davon aus, dass es sogar mehr nicht-gewertete Briefwahlstimmen als ungültige Urnenwahlstimmen insgesamt gibt.
Und künftig werden es wohl noch mehr werden. Denn immer mehr Menschen wählen per Brief. Das heißt auch: Immer mehr ungültige Stimmen werden überhaupt nicht gezählt.
Handlungsbedarf sieht die Bundeswahlleitung nicht, da „die Zahl für die Ergebnisermittlung und Sitzberechnung nicht relevant ist“.
Nyhuis von der Universität Hannover stimmt zwar zu, dass die verlorenen Stimmen die politischen Kräfteverhältnisse nicht umwerfen. „Dass davon Sitze beeinflusst werden, halte ich für nahezu ausgeschlossen.“ Er kritisiert aber, dass die Zahl der Zurückweisungen nicht erfasst wird und die Wähler nicht informiert werden, wenn ihre Stimme nicht gezählt wird. Ihn wundere, dass die Wahlleitungen kein größeres Problembewusstsein haben.
Bemühungen, eine überregionale Statistik über die zurückgewiesenen Briefe zu erstellen oder das Gesetz zu reformieren, sind der Bundeswahlleitung nicht bekannt, teilt sie auf Anfrage mit.
Anmerkung: Am 25. September haben wir den Hinweis, dass ausschließlich ungültige Stimmen betroffen sind, im zweiten Absatz nachträglich deutlicher formuliert.