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Auto-Landschaft Berlin

Was die Verteilung von Pkw in der Stadt über soziale Unterschiede sagt

Während die Zahl der Autos in manchen Berliner Kiezen stark steigt, nimmt sie in anderen ab. Wie hängt das mit Faktoren wie Wohnungseigentum, sozialem Status oder Luftqualität zusammen? Eine Datenanalyse.
Während die Zahl der Autos in manchen Berliner Kiezen stark steigt, nimmt sie in anderen ab. Wie hängt das mit Faktoren wie Wohnungseigentum, sozialem Status oder Luftqualität zusammen? Eine Datenanalyse.

Was der einen Freiheit ist, steht den anderen im Weg. Die Debatte um Autos gehört zu den hitzigsten der Hauptstadt. Der abrupte Radwegestopp der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) hat sie weiter angefacht, am Sonntag gingen Tausende dagegen auf die Straße – auf dem Fahrrad.

Auf der Strecke bleiben dabei oft: Fakten. Wo besitzen die Menschen in Berlin viele Autos? Welche Kieze leiden am meisten unter dem Verkehr? Sind es die jungen oder alteingesessene Kieze, in denen Autos vor der Tür stehen?

Stellt man Wählerschaft und Autobesitz nebeneinander, drängen sich Zusammenhänge auf, auch wenn die Auto-Zulassungsdaten leider nicht auf Ebene der Wahlkreise vorliegen: Die Berlinkarte mit dem Zweitstimmenanteil der CDU ähnelt der Karte des Autobesitzes. Stadtteile, in denen viel Grün gewählt wurde, fallen häufig mit Gebieten zusammen, in denen es viele Autos pro Fläche gibt, aber wenig Autobesitz.

Zahl der Pkw pro Kopf nach Planungs­räumen 2022
Stimmenanteil der CDU bei der Berlin-Wahl 2023 nach Stimmbezirken
Zahl der Pkw pro Fläche nach Planungs­räumen 2022
Stimmenanteil der Grünen bei der Berlin-Wahl 2023 nach Stimmbezirken
Daten: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2022), Landeswahlleiter Berlin

1,23 Millionen Pkw sind in Berlin zugelassen – acht Prozent mehr als vor zehn Jahren. Gleichzeitig ist die Bevölkerung gewachsen – schneller als die Zahl der Autos. Pro Kopf gibt es weniger Pkw als 2012. Vor zehn Jahren kamen 328 Pkw auf 1000 Einwohner:innen. 2022 waren es 319.

Am meisten PKW sind in Steglitz-Zehlendorf gemeldet
Die Grafik zeigt die Gesamtzahl gemeldeter Privat-PKW nach Bezirken – einmal nach absoluten Zahlen und pro Kopf. Gewerbliche gemeldete PKW sind nicht mit einbezogen, machen aber nur circa 11 Prozent aller zugelassenen PKW in Berlin aus.
Daten: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2022)

Aber: Die Entwicklung ist kein berlinweites Phänomen. Das Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg hat erstmals detaillierte Daten aggregiert und dem Tagesspiegel zur Verfügung gestellt. Sie stammen aus Zulassungsdaten für Pkw und wurden für 2015 bis 2022 ausgewertet – für alle 542 sogenannten „Planungsräume“. Das ist das, was die meisten in Berlin „Kieze“ nennen, zum Beispiel der Bergmannkiez. Schaut man, wie sich die Autos auf die Stadt verteilen, fällt auf, wie groß die Unterschiede sind.

Weil es für diese Gebiete weitere Statistiken gibt – von Arbeitslosigkeit über Luftbelastung bis hin zu Migrationsanteil – lässt sich ausrechnen, welche Faktoren wo zusammenkommen. Um mehr Daten schneller abzugleichen, haben wir die neue Analyse-Funktion von ChatGPT genutzt. Alle relevanten Ergebnisse wurden händisch nachgerechnet.

Die Muster zeigen, dass eine autofreundliche Verkehrspolitik weiterhin der Lebensrealität vieler Berliner:innen entspricht, die eher am Stadtrand wohnen und sich ein Auto leisten können. In anderen Teilen der Stadt leidet die Bevölkerung stärker unter den Folgen des Verkehrs, trotz weniger Autobesitz.

Innen, Stadt, Lage: Am Stadtrand stehen die Autos

Auf den ersten Blick bestätigt sich manches Klischee über autoskeptische Innenstadt und benzinaffine Außenbezirke. Die meisten Privatautos sind im Bezirk Steglitz-Zehlendorf registriert, nämlich 115.104, die wenigsten mit 50.921 in Friedrichshain-Kreuzberg.

Die Entwicklung ist aber vielfältiger: Nicht in Kreuzberg hat die Zahl der Autos seit 2015 am stärksten abgenommen, sondern in Lichtenberg. Hier gibt es 27 Autos weniger pro 1000 Einwohner als 2015, ein Minus von 9,5 Prozent. Die absolute Zahl der Autos ist trotzdem gestiegen: von 79.497 auf 80.632.

Nur in zwei Bezirken ist die Zahl der Autos pro Kopf in den letzten acht Jahren gestiegen: in Neukölln um neun und in Spandau um gerade einmal 0,2 Prozent. Hier ist allerdings die absolute Zahl der Autos am stärksten gestiegen – um insgesamt 6453 Autos. Gleichzeitig sind aber 19.545 Personen zugezogen. Aber erst, wenn man die kleinere Kiez-Einheit betrachtet, erkennt man Zusammenhänge, die bei der gröberen Bezirksbetrachtung verborgen bleiben. Zu unterschiedlich sind die Nachbarschaften. Beispiel Spandau: In der Rudolf-Wissell-Großsiedlung hat die Zahl der registrierten Autos seit 2015 um 24 Prozent zugenommen. Im beschaulicheren Haveleck im selben Bezirk um 30 Prozent abgenommen.

Wie hängen die Entwicklungen in den Kiezen zusammen? Die einfachste Erkenntnis auf Kiezebene ist so banal wie häufig ignoriert: Je weiter außerhalb der Kiez, desto mehr Autos pro Kopf. Der Alexanderplatz ist der größte Nahverkehrsknoten Berlins mit rund 440.000 Umsteigern täglich. Je weiter ein Kiez von dort entfernt ist, desto höher die durchschnittliche Zahl der Autos. In Zahlen: 330 Autos kommen außerhalb des Rings auf 1000 Menschen, innerhalb nur 202.

Umso näher am Alex, umso weniger gemeldete Autos
Daten: Amt für Statisik Berlin-Brandenburg (2022)

Das sagt auch Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin. Gründe dafür gibt es verschiedene: Es dauert länger, mit Bus und Bahn zu Läden, Theatern oder Konzerten in Berlin zu kommen. „Je weniger dicht die Besiedelung, umso höher die Autoverfügbarkeit.“ Das liege zudem daran, dass der öffentliche Nahverkehr weniger verfügbar ist als innerhalb des Rings. Das Phänomen der autoreichen Außenbezirke gilt aber nicht überall. Hinzu kommt vor allem: Geld. Dazu später.

Wenn ein Kiez autoreich ist, heißt das vor allem in Berlin nicht, dass er mit Autos vollsteht. Einige Nachbarschaften mit überdurchschnittlich vielen Autos pro Kopf haben zugleich wenige Autos pro Quadratkilometer. Häufig sind das idyllisch-rurale Kieze, gesäumt von Seen, Wäldern oder Feldern. Da wären zum Beispiel der Blankenburger Süden in Pankow, der die zweitwenigsten Autos pro Quadratkilometer aufweist. Oder das Gartenfeld und der Nonnendammallee-Kiez in Spandau sowie Schmöckwitz in Treptow-Köpenick, alle umgeben von Flüssen. Auch die Gegend rund um den ehemaligen Flughafen Tegel zählt dazu. Dass man in den abgelegenen Kiezen eher ein Auto braucht, liegt hingegen nahe – und auch die Parkplatzsuche gestaltet sich hier einfacher.

Älter und reingefahren: Kieze mit mehr Senioren haben mehr Autos

Angaben zur durchschnittlichen Wohndauer zeigen: In Kiezen, wo mehr Menschen schon länger als fünf Jahre wohnen, gibt es mehr Autos. In Kiezen, in denen es mehr Umzüge gibt, also mehr Zu- und Fortzug, gibt es häufiger weniger Autos.

Bei der Alterszusammensetzung gibt es ähnliche Zusammenhänge: In Kiezen mit einem höheren Bevölkerungsanteil über 65 Jahre gibt es durchschnittlich mehr Autos. Das alles kommt zusammen: Mehr Ältere, weniger Junge, die gerade erst nach Berlin ziehen, eine größere Entfernung zum Stadtzentrum, mehr Platz zum Parken.

Alle Kieze im Überblick
Sortiere nach den autoreichsten Nachbarschaften per Klick auf die Tabelle oder suche nach deinem Kiez.
Daten: Amt für Statisik Berlin-Brandenburg (2022)

Was sich auf Ebene der Berliner Kieze nicht bestätigt, ist die These vom Auto für die Familie. 2018 besaßen in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 95 Prozent der Paare mit Kindern ein Fahrzeug. In Berlin ist das diverser. In kinderreichen Kiezen gibt es nicht zwangsläufig mehr Autos.

Arm, aber dicke Karren? Ein Klischee

Wesentlich wirkmächtiger als Alter, Migrationsanteil oder Kinder ist der soziale Status. Wer arm ist, kann sich oft kein Auto leisten. Entgegen dem Klischee vom Arbeitslosen mit Luxuskarre gibt es, statistisch betrachtet, weniger Autos je Kiez, je mehr Personen arbeitslos sind: ein Indikator für Armut. Zumindest in Berlin, so Andreas Knie: „In den großen Städten gilt die Regel: Je geringer das Haushaltsnetto, umso weniger Autos gibt es.” Unter 1500 Euro Haushaltseinkommen habe in Berlin praktisch kein Haushalt mehr ein Auto. „In Brandenburg sowie im ländlichen Raum ist das anders.”

Das bestätigt eine Studie der Marktforschungsagentur infas für das Bundesverkehrsministerium 2019: Arme Menschen haben nicht nur seltener ein Auto, sie sind insgesamt weniger mobil. Wenn sie ein Auto haben, nutzen sie es seltener. Sie steigen aber auch nicht häufiger in den öffentlichen Nahverkehr. Sozial Schwache bewegen sich weniger in der Stadt.

So erklären sich auch einige Kieze am Stadtrand mit auffällig wenig Autos pro Kopf. Ärmere Teile von Marzahn-Hellersdorf oder Spandau beispielsweise. In der Innenstadt ging die Zahl der Autos in ärmeren Kiezen teils ebenfalls weiter zurück, obwohl sie schon niedrig war, im Kiez Prinzenstraße zum Beispiel, oder in Teilen von Lichtenberg. Laut einer Berechnung der Mobilitätsberatung Experi gibt es in den wohlhabendsten Kiezen doppelt so viele Autos pro Kopf wie in den ärmsten.

Höhere Arbeitslosenquote, weniger gemeldetete Autos
Daten: Amt für Statisik Berlin-Brandenburg (2022)

Oder es kommt beides zusammen: Stadtrand, wenig Platz und wenige Autos. Einer der Kieze mit den meisten Autos pro Fläche liegt im Süden Neukölln: „Gropiusstadt Süd-Ost“, 6391 Pkw pro Quadratkilometer gibt es hier. Dabei sind nur 255 Autos pro 1000 Einwohner*innen angemeldet, unterdurchschnittlich viele. Aber überdurchschnittlich viele sind hier ohne Arbeit – 7,4 Prozent. Ein vollgeparkter Kiez, obwohl nur ein Auto auf vier Personen kommt.

Bundesweite Zahlen aus dem Datenreport – Sozialbericht für Deutschland (2021) belegen den Zusammenhang zwischen Einkommen und Autobesitz. Demnach haben nur 42 Prozent der Haushalte mit einem Einkommen unter 1300 Euro netto ein Fahrzeug, ab 2600 Euro netto haben über 90 Prozent mindestens eines.

Im Eigentum unterwegs, im Eigentum zu Hause

Den umgekehrten Effekt gibt es ebenfalls: Wo viele im Wohneigentum leben, haben die Leute mehr Autos. Der Kiez mit der höchsten Eigentümerquote ist die Reihenhaussiedlung „Birnhornweg“ in Mariendorf. 99 Prozent des Grund und Bodens hier befindet sich im Eigentum von Einzelpersonen, 486 Autos pro 1000 Einwohner:innen sind auf Privathalter registriert. Eigentum verpflichtet – viele anscheinend auch zum Autobesitz.

In einem der Kieze mit den wenigsten Einzeleigentümern von Wohnraum – nämlich keinen – haben extrem wenige ein Auto: Rund um die Neue Grottkauer Straße in Marzahn-Hellersdorf gibt es 227 private Pkw pro 1000 Personen.

Höhere Einzeleigentümerquote, mehr Autos pro Kopf
Daten: Amt für Statisik Berlin-Brandenburg (2022)

Wer sich eine eigene Wohnung leisten kann, hat nicht nur häufiger ein eigenes Auto, sondern oft gleich mehrere. Bei Haushalten mit hohem oder sehr hohem Einkommen stieg der Anteil der Zweit- und Drittwagen an, heißt es in dem bundesweiten statistischen Bericht. Mehr als 90 Prozent der reicheren Haushalte in Deutschland hatten demnach 2021 mindestens ein Zweitauto.

Nun wäre die Debatte einfach, wenn diejenige mit Auto auch die Folgen aushalten müssten: Lärm, schlechte Luft, volle Straßen, Unfälle vor der Tür. So ist es aber nicht.

Berliner Luft: Im Zentrum stinken die Autos

Je mehr Autos pro Kopf im Kiez zugelassen sind, desto besser die durchschnittliche Luftqualität und Lärmbelastung. Klingt paradox, ist aber simpel. Während Menschen in wohlhabenden Kiezen am Stadtrand tendenziell mehr Autos besitzen, fahren sie damit oft in die Innenstadt, gehen einkaufen, ins Theater und stellen ihr Auto ab. Und Unfälle häufen sich eher in der Innenstadt und nicht dort, wo am meisten Autos angemeldet sind.

Ist ein Kiez autoreich, heißt das vor allem in Berlin nicht, dass er mit Autos vollsteht. Einige Nachbarschaften mit überdurchschnittlich vielen Autos pro Kopf haben zugleich wenige Autos pro Fläche. Häufig sind das idyllisch-rurale Kieze, gesäumt von Seen und Wäldern. Zum Beispiel der Blankenburger Süden in Pankow, die Nachbarschaft mit den zweitwenigsten Autos pro Fläche Quadratmeter in Berlin, oder Gartenfeld in Spandau, umgeben von Flüssen. Dass man in den abgelegenen Kiezen eher ein Auto nutzt, liegt nahe – und auch die Parkplatzsuche gestaltet sich hier einfacher. Grüne Kieze, viel Platz. Die vielen Autos fallen hier weniger auf als inmitten von Kreuzberg.

Zahl der Pkw pro Kopf nach Planungs­räumen
Luftbelastung in Berlin nach Planungs­räumen

Am Ring häuft sich das Problem, sagt Knie. Hier lebten weiterhin besonders viele Ärmere. Zu fehlenden Grünflächen kommen dann Lärm und schlechtere Luft. Während am Stadtrand die meisten Autos gemeldet sind, leiden die Menschen in der Innenstadt am meisten darunter – obwohl sie seltener ein Auto besitzen.

Unter anderem durch mehr Firmenwagen steigt die Autozahl weiter, sagt Knie. Aber sie würden seltener gefahren. „Mehr und mehr wird das Auto noch als eine Art „Mobilitätsversicherung“ genutzt: gut, wenn man eins hat – auch wenn man es kaum braucht. Ein Grund sei die im nationalen und internationalen Vergleich paradiesische Parkplatzsituation.

Die Gebühren für Parkausweise sind in Berlin gering, viele Kieze haben gar keine Parkraumbewirtschaftung. Die Einnahmen decken nicht die kommunalen Kosten für den Betrieb der Parkplätze, so eine Studie von Agora Verkehrswende. Also zahlt die Mehrheit der Berliner Stadtgesellschaft für Betrieb und Instandhaltung, obwohl sie kein Auto besitzt.

All das zusammen erklärt zumindest ein wenig, warum sich Autofahrer und Autogegner in Berlin schlicht nicht verstehen. In ihren Nachbarschaften herrschen völlig unterschiedliche Realitäten.

Das Team

Marcel Arnold
Datenanalyse
Eric Beltermann
Webentwicklung
Nina Breher
Datenanalyse und Text
Hendrik Lehmann
Text und Recherche
Thomas Weyres
Aufmacher
Helena Wittlich
Produktion
Veröffentlicht am 4. Juli 2023.
Zuletzt aktualisiert am 5. Juli 2023.