Die reinen Zahlen schockieren: 360.840 Menschen weltweit, 171.414 in Europa und mehr als 8570 Menschen in Deutschland sind bisher mit dem Virus Sars-CoV2 im Körper gestorben. Jeder Todesfall ist tragisch. Die Todeszahlen einzuordnen fällt deshalb erst recht schwer. Weil sich menschliche Einzelschicksale nicht in nackte Ziffern fassen lassen. Aber auch, weil manche Arten zu Sterben in den Wohlstandsgesellschaften selten geworden sind. Das wird deutlich, wenn man sich die Statistiken zu Todesfällen in einem größeren Kontext anschaut.
Rein rechnerisch stirbt alle 33 Sekunden in Deutschland ein Mensch. Hat sich daran durch Corona etwas verändert? Bisher überraschenderweise kaum. Die wöchentlichen Todesfälle liegen hierzulande zwar insgesamt leicht über dem Durchschnitt der Vorjahre. Aber dafür, dass wir uns in einer Pandemie befinden, ist die sogenannte Übersterblichkeit gering.
Der Vergleich mit anderen Teilen der Welt zeigt: Wie viele Opfer die Pandemie fordert, klafft je nach Land stark auseinander. In England und Wales starben zeitweise doppelt so viele Menschen wie in den Vorjahreswochen. Auch in den Vereinigten Staaten, aktuell das Land mit den meisten Todesfällen, ist die Sterblichkeit sehr stark erhöht:
Zu zählen, wie viele Menschen in einem Gebiet leben, gehört zu den ältesten Formen der Statistik. Später wollte man auch wissen, wie viele Menschen geboren werden – und wie viele sterben. Frühe Formen der Rentenversicherung waren ein Grund dafür.
[Mehr interaktive Datenanalysen. Mehr visueller Journalismus. Und mehr aus Politik und Gesellschaft. Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus! Mit Tagesspiegel Plus lesen Sie auch zukünftig alle Inhalte. Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]
Heute wird das Sterben genauer erfasst. Wie viele Menschen in Deutschland jährlich den Tod finden, ist erstaunlich regelmäßig: Gut 83 Millionen Menschen leben hier. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Deutschland inzwischen, je nach Geburtsjahr, um die 80 Jahre. So stirbt jährlich circa ein Prozent der Bevölkerung. 954.874 Menschen waren es 2018. Und wir wissen auch, woran. Denn für jeden wird ein Totenschein ausgefüllt. Dort wird unter anderem vermerkt, was die Ursache des Todes war, eingeteilt nach einer internationalen „Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, kurz ICD. Diese Klassifikation sortiert Krankheiten in Gruppen, vor allem nach den betroffenen Körperteilen oder Art der Diagnose. Folgende Krankheiten waren am häufigsten tödlich:
Manche der Zuordnungen sind überraschend: Von den vielen psychischen Befunden sind die meisten „vaskuläre Demenz“, also geistige Einschränkungen durch Gefäßprobleme des Gehirns – aber auch Depressionen standen 673-mal auf dem Totenschein als direkte Ursache. Übergewicht etwa gehört zu den Erkrankungen von Ernährung und Stoffwechsel, alkoholische Fettleber hingegen zum Verdauungssystem. Und die 32.593 ungewöhnlichen Befunde sind so allgemein, dass sie in keine Überkategorie sonst hineinpassen, beispielsweise „Tod ohne Anwesenheit anderer Personen“ (7905 Tote) oder gar „Ruhelosigkeit und Erregung“ (ein Toter).
Auch Covid-19 wird in den internationalen Krankheiten-Klassifikation ICD einer dieser Gruppen zugeordnet werden. Es steht allerdings noch nicht fest welcher. Ist es eine Erkrankungen des Atmungssystems wie die Grippe? Oder eine Infektionserkrankung wie Aids? Würde man Covid-19 als eine einzelne Krankheit in diese Liste von 2018 aufnehmen, würde sie in Deutschland auf Platz zwölf landen – noch vor den Muskel- und Skelett-Problemen, beispielsweise Osteoporose.
Die obigen Zahlen gelten jedoch für das ganze Jahr 2018. Der erste bekannte Fall einer Coronainfektion 2020 trat aber erst am 27. Januar auf und die Pandemie ist noch nicht beendet. Das Virus kann also erst seit einem Drittel des Jahres eine Todesursache sein. Rechnet man die Todesursachen aus 2018 ebenfalls auf vier Monate herunter, läge Covid-19 bereits bis zum 27. Mai auf Platz 9.
Bei vielen der großen Todesursachen fällt auf, dass sie eher aus dem Inneren unseres Körpers kommen. Es gibt kaum äußere Feinde, die wie das Virus plötzlich über uns kommen. Eine Ausnahme bilden da die gewaltsamen Tode, die in der ICD-Klassifizierung als „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“ zusammengefasst werden: Dazu gehören Mord, Totschlag, Suizid und Unfälle. Wenn wir hier wieder einen Zeitraum von vier Monaten als Vergleich nehmen, zeigt sich, dass schon viel mehr Menschen an Covid-19 gestorben sind als bei Verkehrsunfällen sterben.
Dabei fällt nicht nur auf, dass es ungefähr 28-mal so viele Suizide wie Tötungen durch andere Menschen gab. Es wird auch deutlich, dass Covid-19 in einem Zeitraum von vier Monaten mehr Menschen getötet hat, als 2018 in vergleichbarer Zeit durch Verkehrsunfälle oder Selbsttötungen zusammen gestorben sind.
Die Angst vor Corona ist also statistisch mindestens so gerechtfertigt wie die Angst vor einem Unfall oder gar einem Mord. Während manch meinungsstarker Polemiker die Eindämmungsmaßnahmen als unnötig bezeichnet, würde wohl kaum jemand sagen, Maßnahmen gegen Morde oder Verkehrsunfälle sind unnötig – unabhängig vom Alter der Todesopfer.
Die äußeren Todesursachen sind dennoch selten im Vergleich zur Gesamtzahl der Toten. Heute sterben die Menschen vor allem an ihrem eigenen Körper – weil Blutgefäße verstopft sind, das Herz nicht mehr schlägt, die Zellen des Körpers unkontrolliert zu wuchern beginnen. Sie sterben aber normalerweise NICHT an ansteckenden Krankheiten. Um genauer zu sein: Nicht mehr. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, wie jung diese Errungenschaft ist. Er liefert auch starke Gründe, warum die Pandemie Urängste weckt.
Historisch waren Seuchen nämlich das, was heute Herzprobleme sind. Totenscheine gibt es zwar noch nicht so lange, aber andere Quellen verraten etwas über den Tod unserer Vorfahren. Die Medizinerin Anja Spickereit hat untersucht, welche Todesursachen in Kirchenbüchern in der Stadt Memmingen in den Jahren 1740 bis 1809 genannt wurden. Spickereit hat diese historischen Bezeichnungen in die modernen Kategorien übersetzt. So entspricht „Schleimfieber“ etwa der Bakterieninfektion Typhus. „Steckfluss“ würden wir heute als Herzinsuffizienz klassifizieren.
Krebs, der heute hierzulande jeden Vierten tötet, wurde in den Kirchenbüchern lediglich 71-mal als Ursache vermerkt und würde damit nur die sechstgrößte Gruppe stellen. Gewalt und Unfälle wurden sogar noch seltener genannt. Damalige Diagnosen waren natürlich viel ungenauer. In einer zitierten Predigt ist etwa von „schlagsüchtigen Deluxiones“ als Todesursache die Rede. Den Begriff „Deluxion“ gebe es so jedoch gar nicht, kommentiert Spickereit. Wahrscheinlich waren Beeinträchtigungen nach einem Schlaganfall gemeint. Ein anderer „Seel. Herr“ sei von „Blödigkeiten“ befallen worden, bevor er starb. Offenbar war es eine Gefäßverkalkung im Gehirn des 69-jährigen Geschäftsmanns. Mit dem Alter war er damals ein Greis. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland lag damals laut Gesis Histat bei ungefähr 37 Jahren.
Besonders viele Tote wurden damals in die heute seltenere Gruppe der ungewöhnlichen Befunde sortiert. Etwa die Hälfte von ihnen starben in Memmingen an „Alterskrankheit“. Eine ziemlich ungenaue Diagnose – aber auch 2018 taucht die entsprechende ICD-Bezeichnung „Senilität“ noch fast 3000-mal auf deutschen Totenscheinen auf. Und trotz viel genauerer Diagnosen: 19.884 Totenscheine waren in Deutschland 2018 so ausgefüllt, dass man die Todesursache nicht eindeutig zuordnen kann.
Seuchen bleiben noch lange eine der häufigsten Todesursachen: 1920 war die Tuberkulose, ausgelöst durch Bakterien, noch ein gefürchteter Killer im damaligen Deutschen Reich. Seitdem ist sie ebenso deutlich zurückgegangen wie der Tod durch Lungenentzündung. Dafür sterben in Deutschland heute viel mehr Menschen an Krebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten.
Es dauerte also Jahrhunderte, die ansteckenden Krankheiten so weit zurückzudrängen, dass wir heute den Luxus haben, am Alter zu sterben. Beendet ist dieser Kampf noch nicht.
Weltweit sterben weiterhin jedes Jahr Millionen Menschen an Infektionskrankheiten, die eigentlich behandelbar sind. Tuberkulose ist trauriger Spitzenreiter. Aber auch Malaria und HIV töten jede Woche Tausende. Leider holt das Coronavirus rasant auf. Vergleicht man die bisherigen Corona-Todeszahlen (Stand 27.5.2020) mit einem rechnerisch gleichlangen Zeitraum von vier Monaten der größten Ansteckungskrankheiten 2017, hat das Coronavirus bereits mehr Tote gefordert als Malaria und HIV.
Es wird noch komplizierter: Denn welche Folgen der Ausbruch des Coronavirus für die Bekämpfung dieser Krankheiten hat, ist noch nicht klar. In einigen Ländern haben Lockdown-Bestimmungen verhindert, dass Hilfsangebote stattfinden können. So rechnet die Organisation „Stop TB Partnership“ mit mehr als einer Millionen zusätzlicher Todesfälle durch Tuberkulose in den Jahren 2020 bis 2025. Die Organisation hat sich der Bekämpfung von Tuberkulose gewidmet.
Das wird die medizinische Kluft zwischen den Staaten wahrscheinlich weiter vertiefen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO vergleicht für die Staaten der Welt, wie viele Todesfälle auf ansteckende Krankheiten zurückgehen. In Deutschland war es 2016 nur noch ein Mensch von zwanzig, in Guatemala jede vierte Person. Wie die Menschen sterben, spiegelt häufig den Wohlstand von Gesellschaften wider: Das BIP pro Kopf ist in Guatemala etwa zehnmal niedriger als hierzulande. In der Demokratischen Republik Kongo ist das BIP pro Kopf noch zehnmal niedriger als in Guatemala. Dort starben noch 2016 sechs von zehn Menschen an ansteckenden Krankheiten, bei der Geburt oder an Ernährungsproblemen. Die meisten davon wären verhinderbar – oder behandelbar.
Das wirkt sich radikal darauf aus, wie lange Menschen leben. Die größte Gruppe der Todesopfer in der DR Kongo sind Kleinkinder unter fünf Jahren. Im reichen Deutschland sterben die allermeisten nach einem langen Leben.
Dazu passt die Altersverteilung bei den häufigsten Todesursachen. Innerhalb der größten Gruppe der Herz-Kreislauf-Toten waren die meisten Verstorbenen in Deutschland älter als 80 Jahre. Beim zweithäufigsten Todesgrund Krebs ist die Gruppe der 60- bis 80-Jährigen etwas größer.
Selbst bei Gewalt und Unfällen sterben am häufigsten die Betagten. Aber hier verzeichnet die Statistik auch jedes Jahr einen größeren Anteil jüngerer Toter. 2018 starben 839 Menschen zwischen 15 und 35 bei Verkehrsunfällen, 13 Kinder nahmen sich das Leben, bevor sie 15 Jahre alt wurden.
Je länger man lebt, desto mehr Zeit haben Umwelt und eigene Entscheidungen, auf den Körper zu wirken. Nach langem Leben zeigen sich die Auswirkungen des Lebensstils und der Lebensqualität. Dreckige Luft und Rauchen etwa erhöhen das Risiko für Krebs in der Lunge. Die chronische Atemwegsverengung COPD wird umgangssprachlich oft als „Raucherlunge“ bezeichnet. Beide Krankheitsbilder töteten in einem Jahresanteil von vier Monaten 2018 jeweils mehr Menschen als Covid-19.
Auch Alkohol und Zucker werden im Übermaß zum Risiko. Die gefürchteten Folgeerscheinungen Leberzirrhose und Typ 2-Diabetes sind aber in unserem rechnerischen Vergleichsanteil keine so großen Killer, wie es Covid-19 bislang ist.
Je länger die Pandemie wütet, desto wichtiger wird eine andere Frage: Ist der Lockdown selbst gefährlich? Werden zwar Virus-Tote verhindert, aber gleichzeitig andere Todesursachen häufiger? Trinken die Menschen mehr Alkohol? Gibt es mehr häusliche Gewalt? Trauen Herzkranke sich nicht ins Krankenhaus?
Es gibt dazu bisher noch kaum verlässliche Daten. Der Sterbeforscher Dmitri Jdanov vom Max-Planck-Institut warnt im Gespräch mit dem Tagesspiegel jedoch vor negativen Folgen. „Menschen, die regelmäßige Behandlungen brauchen, können sie jetzt nicht so einfach bekommen. Dann gibt es schwerwiegende Langzeiteffekte auf die Mortalität.“ Derzeit gehen bereits weniger Menschen mit Schlaganfällen ins Krankenhaus, berichtet das Ärzteblatt. Es geht vor allem um leichte Fälle. Wer aber einen leichten Schlaganfall hatte, bekommt auch wahrscheinlicher einen schweren.
Außerdem könne niemand vorhersagen, wie sich der psychische Stress auswirkt, sagt Jdanov: „Auf Menschen, die alleine leben beispielsweise, oder Menschen mit Kindern. Das ist eine große Herausforderung.“
Der Präsident der medizinischen Fachgesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN), Andreas Heinz, befürchtet das ebenfalls. Er berichtet vom Ergebnis einer noch unveröffentlichten Studie: „Es ist schon recht deutlich, dass alle Angsterkrankungen und Depressionen unter sozialer Distanzierung sowohl häufiger als auch schlimmer werden.“ Man gehe zudem davon aus, dass soziale Isolation ein großer Suizid-Stressfaktor sei. Wie gefährlich er ist, werden wir erst in den kommenden Monaten wissen.
Die Maßnahmen werden bis dahin jedoch hoffentlich wesentlich mehr Tode verhindert haben. Und zwar nicht nur Todesfälle durch Corona… Die Influenzawelle endete offenbar aufgrund der Kontaktbeschränkungen etwas früher, so starben wohl weniger Menschen an der Grippe. Auch einige Verkehrstote dürfte der Lockdown verhindert haben. Und man hört immer häufiger von Menschen, dass die Zwangspause vom Alltag auch andere positive Folgen hatte. Es wird mehr selbst gekocht, oft gesundes Essen gekauft und für das Private bieten sich auch mal während der Bürozeiten neue Freiräume. Das macht das Leben dann nicht nur länger, sondern für manche auch schöner.