Jetzt noch einmal verzichten, zu Hause bleiben, Abstand halten. Um dann, an Weihnachten, endlich wieder mit all denen zusammen zu sitzen, die man im Pandemie-Jahr am meisten vermisst: An Weihnachten sollen die Lockdown-Regeln ein Stück weit gelockert werden, wie am Mittwoch beschlossen wurde. Aber je näher das Fest rückt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass wir uns schon in einem Monat auch nur annähernd so sorgenfrei umarmen können werden wie vor Corona. Denn dafür müsste die Neuinfektionsrate ab jetzt drastisch sinken. Nun zeigen Modellierungen, die den möglichen Verlauf der Neuinfektionen versuchen vorauszusagen: Es wird ein riskantes Weihnachten.
Solche Berechnungen gibt es viele, sie haben unterschiedliche Methoden, die Ergebnisse ähneln sich aber und eines zeigen sie alle: Die von Bund und Ländern gewünschte Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zu Weihnachten ist mehr als unwahrscheinlich.
Eine Simulation stammt von der Universität des Saarlandes. Der Simulator „CoSim“ berechnet, wie sich die Infektionszahlen in den kommenden Wochen entwickeln könnten. Er kann viele verschiedene Szenarien berechnen, vier davon haben die Forscher visualisiert und dem Tagesspiegel zur Verfügung gestellt.
Der Professor für Klinische Pharmazie Thorsten Lehr und sein Team haben das Modell entwickelt. „Die Simulationen geben uns einen sehr guten Hinweis darauf, was eigentlich nötig wäre, um Ziele zu erreichen“, sagt er am Telefon.
Für die Berechnung ist die Reproduktionszahl, kurz: R-Wert, entscheidend. Für ihre vier Szenarien gehen sie von vier unterschiedlichen R-Werten aus. Vereinfacht gibt die Zahl an, ob wir es schaffen, die Infektionen zurückzudrängen. Das passiert, wenn R unter 1 liegt. Dann steckt ein Infizierter weniger als einen weiteren Menschen an. Liegt er über 1, dann steckt jeder Mensch mehr als einen weiteren an. R=1,1 heißt etwa, dass zehn Menschen 11 weitere anstecken. Dann wird das Wachstum immer schneller. Steht R auf genau 1, bleiben die täglichen Neuinfektionen in etwa gleich. Dann spricht man von einem Plateau.
Das optimistischste Szenario der Saarländer Forscher geht davon aus, dass der R-Wert ab dem morgigen Samstag, 28. November, 0,6 beträgt. Dann würden in den kommenden Wochen zehn Infizierte durchschnittlich sechs weitere Menschen anstecken. Mit etwas Zeit sinkt so die Zahl der Infizierten, wie die Grafik weiter oben zeigt. Und so flacht die Kurve allmählich ab.
In dem „R = 0,6“-Szenario würde es gerade schnell genug gehen: Kurz vor Weihnachten, nämlich am 20. Dezember, würden die meisten Landkreise eine Inzidenz unter 50 vorweisen können. Dann wäre die Pandemie für den Moment mehr oder weniger beherrschbar. Das wäre fast ein Grund zu feiern, natürlich im überschaubarsten Familien- oder Freundeskreis.
Es ist aber äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt: Denn im ersten Lockdown drückten die wesentlich strengeren Maßnahmen den R-Wert Anfang April auf bis zu 0,62, so berechnete es Lehrs Team. Die Wissenschaftler berechnen den R-Wert auf Grundlage der RKI-Daten selbst. „Das Ergebnis ist sehr ähnlich wie das des RKI, aber unser R-Wert ist weniger schwankungsanfällig“, sagt Lehr. Das RKI meldete im Frühjahr einen Wert von 0,67. 0,6 ist also ein sehr niedriger Wert - oder eine „Traumzahl“, wie Lehr es ausdrückt. „Ich glaube allerdings nicht, dass wir ihn wieder erreichen“, sagt Lehr. In den ersten Novemberwochen schwankte der R-Wert zwischen 0,8 und 1,1.
Denn im Frühjahr, so der Experte, schloss die Regierung auch die Schulen, und viele arbeiteten aus dem Home-Office. „Jeder Tag war ein Totensonntag“; die Leute seien lieber zu Hause geblieben. Jetzt, das sehe man seiner Ansicht nach auf den Straßen, seien die Menschen mehr unterwegs - Mobilitätsdaten spiegeln das, sagt Lehr. „Eine gewisse Coronamüdigkeit macht sich breit.“ Zudem seien Schulen und Einzelhandel offen - wenn auch unter Hygieneauflagen.
Blickt man auf die aktuelle Entwicklung, zeigt sich, dass die Neuinfektionen nicht so rasch sinken wie im Frühjahr.
Man könnte es auch so sagen: Für eine Trendwende reicht der Lockdown light und seine jetzt beschlossene Verlängerung nicht aus. Mit Blick auf die jetzt beschlossenen Maßnahmen klingt Lehr nicht zuversichtlich. Derzeit bewegt sich der R-Wert laut Berechnungen von seinem Team knapp unter 1. „Und wenn wir Glück haben, sinkt der R-Wert auf 0,8“, sagt Lehr. Damit würden die Infektionen bis Weihnachten um 20 Prozent zurückgehen. „Wenn man aber das hektische Treiben in der Adventszeit bedenkt und die sich gerade für das Virus sich entwickelnden günstigen klimatischen Voraussetzung, dann wäre ich um jede weitere Absenkung froh, die wir erzielen.“
Ein R-Wert von im Durchschnitt 0,8 würde die Pandemie „immerhin“ bis Weihnachten auf eine Inzidenz von 100 pro 100.000 Einwohnern herunterregeln. Lehrs Einschätzung nach werde der R-Wert sich aber zwischen 0,8 und 1 einpendeln. 1, das bedeute einen „Krebsgang zur Seite“, in der die Neuinfektionen nicht oder nur langsam sinken.
Die modellhafte Visualisierung zeigt auch, was für einen großen Effekt eine kleine Schwankung des R-Werts haben kann. Läge R konstant bei 1,1 - also nur ein bisschen höher als derzeit -, könnten die Neuinfektionen schon bald einen neuen Höchstwert erreichen.
Die geraden Linien der Grafik machen deutlich: Bei den Berechnungen handelt es sich um modellhafte Prognosen. Um sie anzustellen, nehmen die Forscher einen R-Wert, der unter bestimmten Bedingungen realistisch erscheint - aufgrund von Berechnungen und Erfahrungen mit bisherigen Entwicklungen des R-Werts. Dann nehmen sie an, dass er ab jetzt konstant bleibt und projizieren ihn in die Zukunft. Die Realität ist allerdings selten so geradlinig wie ein Modell. Der R-Wert schwankt, wie diese Grafik zeigt.
Wie genau sich der R-Wert und mit ihm die Pandemie entwickeln wird, können die mathematischen Modelle also nicht definitiv vorhersagen. Das liegt auch daran, dass die Realität einer Pandemie komplex ist. Viele Faktoren sind im Spiel, nicht alle lassen sich isoliert betrachten. Nicht nur politische Maßnahmen können das Verhalten beeinflussen. „Oft nehmen die Menschen die Maßnahmen auch vorweg“, sagt Lehr.
Im Frühjahr haben womöglich auch Bilder von Särgen und überfüllten Krankenhäusern in Italien die Deutschen dazu veranlasst, sich vorsichtig zu verhalten. Jetzt ist denkbar, dass sinkende Temperaturen dazu führen, dass sich mehr Leute in geschlossenen Räumen treffen, wo Ansteckungen wahrscheinlicher sind. So können selbst Faktoren wie das Wetter Einfluss auf den Verlauf der Pandemie nehmen.
Die Infektionsmodelle können trotzdem helfen. Sie sind gewissermaßen Wetterberichte für die Pandemie. Und sie können Szenarien greifbarer machen. Lehrs Forschungsgruppe formuliert es so: Das Modell solle „Behörden, Politikern und dem Gesundheitswesen helfen, den Verlauf der (…) Pandemie kurz- und mittelfristig besser abzuschätzen“ und um die Einflüsse verschiedener Maßnahmen besser einzuschätzen.
Insbesondere mit dem Effekt von Maßnahmen beschäftigt sich auch eine andere Simulation der Coronavirus-Pandemie in Deutschland. An der Universität Leipzig erforschen der Epidemiologie-Professor Markus Scholz und sein Team mithilfe von Computersimulationen Infektionswege, Krankheitsverläufe - und die Wirksamkeit von Maßnahmen. So wolle man aus der Vergangenheit für zukünftige Bekämpfungsmaßnahmen lernen, sagt der Forscher am Telefon.
Das ist nicht ganz einfach: Eine Maßnahme kommt selten allein. Üblicherweise werden ganze Pakete beschlossen. Das mache es schwer zu ergründen, was wirklich wirkt, erklärt Scholz. Außerdem kann es weder die Akzeptanz der Bevölkerung berechnen noch politische Maßnahmen voraussagen. „Für uns wäre es natürlich gut, wenn die Politik eine Maßnahme beschließen würde, die wir dann isoliert auswerten können. Aber das entspricht leider nicht der Realität der Pandemie“, sagt Scholz.
Dennoch: Er und sein Team beobachten, dass während des ersten Lockdowns zwei Maßnahmen besonders großen Effekt hatten. „Das Verbot von Großveranstaltungen und die Schließung von Schulen, für die es damals noch kein Hygienekonzept gab.“
Die Maßnahmen im November bezeichnet Scholz im Vergleich zum Frühjahrs-Lockdown als „minimal“. Um das Ziel zu erreichen, bis Weihnachten eine Inzidenz von 50 Neuinfektionen pro 100.000 pro Woche zu erreichen zu, wäre ein Lockdown „mindestens von der Stärke im März nötig gewesen, eigentlich sogar ein noch stärkerer.“ Auch Lehr geht nicht davon aus, dass das 50er-Ziel Ende Dezember erreicht sein wird. In seinem Szenario läge die Inzidenz erstmals am 21 Januar 2021 unter 50. Auch Scholz rechnet auf Grundlage seines Modells mit Mitte Januar. In dieser Prognose ist ein „eventuell verändertes Infektionsgeschehen über Weihnachten nicht berücksichtigt“.
Beide Experten befürchten Anstiege nach Weihnachten. Ein Hinweis darauf seien auch die nach Weihnachten üblicherweise steigenden Influenza-Infektionen, meint Lehr. Deshalb, da sind sich beide Forscher einig, komme es auch darauf an, wie sich die Familien verhalten, wenn sie zusammenkommen. Im kleinen Kreis feiern. Abstand, Lüften, keine anderen Kontakte. Und sich danach isolieren, empfiehlt Scholz.
Das könnte dann auch helfen, dass nach Weihnachten der R-Wert nicht wieder steigt und nach dem Fest kein böses Erwachen folgt. Doch genau das könnte passieren: „Ich persönlich denke, dass wir über Weihnachten einen R-Wert zwischen 1,1 und 1,3 erreichen können“, sagt der Experte Lehr. „Wir müssen auf jeden Fall aufpassen, dass die Infektionszahlen zwischen den Jahren nicht zu stark ansteigen. Selbst ein Anstieg auf über 1,2 könnte schon zu viel sein.“
Käme es so weit, hätte Deutschland nach Weihnachten wieder einen R-Wert, wie er im Oktober war. Und alles ginge wieder von vorne los.