So viel war vorab darüber diskutiert und berichtet worden, dass das Ergebnis der Europawahl im Großen nicht mehr zu überraschen vermag. Der befürchtete, prophezeite, viel erklärte Rechtsruck, da ist er.
15,6 Prozent der Stimmen erhielt die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD. Zum einen beeindruckt das Ausmaß des Stimmenzugewinns für die Rechten, zum anderen die eindeutig sichtbare Verteilung der Sympathisanten im Bundesgebiet – und in der Hauptstadt.
Immer im Windschatten der AfD: das kleine, politisch junge Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), dessen starkes Ergebnis von 5,7 Prozent zwar europapolitisch gesehen nicht schwer ins Gewicht fällt, als Signal für die Bundespolitik durchaus interessant sein kann.
Die beiden Parteien haben im gesamten Bundesgebiet hinzugewonnen, waren im Osten aber besonders erfolgreich.
Die meisten Zugewinne hatte die AfD – dort ohnehin schon stark mit mehr als 30 Prozent – in zwei Wahlbezirken in Sachsen-Anhalt. In Stendal bekam sie im Vergleich zur Europawahl 2019 beinahe 14 Prozent mehr, im Salzlandkreis waren es 12,7 Prozent. Auf den Plätzen drei und vier folgen Landkreise in Thüringen.
Doch auch im tiefen Westen wird die Partei gewählt. Im Rhein-Sieg-Kreis stimmten 12 Prozent für die AfD, das sind 4 Prozentpunkte mehr als vor 5 Jahren. In Pirmasens in Rheinland-Pfalz bekam sie 25 Prozent der Stimmen und damit 10 Prozent mehr. Sie gewann in Nordfriesland dazu, in Leer, Aurich, Wittmund, genauso am anderen Ende von Deutschland, in Baden-Württemberg im Schwarzwald und rund um den Bodensee.
Mag die AfD Wähler:innen im Osten besonders ansprechen, sie ist, das zeigt sich hier deutlich, längst eine bundesdeutsche Partei.
Bettina Kohlrausch ist Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung und Professorin für gesellschaftliche Transformation und Digitalisierung an der Universität Paderborn. Sie verweist darauf, dass es anti-demokratische Einstellungen in Deutschland schon weitaus länger gebe als die AfD – in der sie sich nun sozusagen in Parteigestalt manifestieren. „Doch für die meisten Wählenden der AfD ist das keine Verlegenheitsentscheidung“, sagt Kohlrausch. „Die stehen wirklich hinter dem, was die AfD sagt.“
Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht kann nahezu überall in Deutschland Stimmen holen. Die Aufteilung ist hier sehr eindeutig: Die meisten Unterstützer:innen leben im Osten des Landes. In Stendal etwa, AfD-Hochburg, wenn man nach den EU-Wahlergebnissen geht, stimmten 15 Prozent der Wählenden für Sahra Wagenknecht und ihre Partei. Weitere Stimmen konnte das Bündnis im Saarland holen, wo Sahra Wagenknecht lebt.
Berlin, die kleine Insel im blauen östlichen AfD-Meer, hat bei der Europawahl vor allem für Grün gestimmt. Die Ost-West-Verteilung der Unterstützer:innen der AfD und des BSW in Deutschland lässt sich nahezu schablonenartig auch auf die Hauptstadt Berlin stülpen.
Es gibt es kaum einen Stimmbezirk, in dem das BSW nicht wenigstens ein paar Stimmen bekommen konnte.
Die AfD hingegen hat in Berlin an einigen Orten sehr eindeutig mehr Stimmen bekommen als noch vor fünf Jahren. Hochburgen sind der Bezirk Marzahn-Hellersdorf und in Teilen auch Lichtenberg. Auch in Spandau leben viele AfD-Unterstützer:innen, ebenso im Süden von Treptow-Köpenick und auch im äußersten Süden von Neukölln.
In Berlin besonders auffällig: Dort, wo die AfD schon zuvor stark war, hat sie noch einmal stärker zulegen können als anderswo. Diesen Effekt gibt es bei anderen Parteien nicht, auch in Deutschland ist er nicht zu sehen.
AfD und BSW scheinen Schnittmengen in ihren Wählergruppen zu haben. „Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat ein Profil, das sich so bislang in der Parteienlandschaft noch nicht durchgesetzt hatte: sozialpolitisch links, gesellschaftspolitisch eher rechts“, erklärt Kohlrausch. Es sei daher gut vorstellbar, dass beide Parteien ähnliche Wählergruppen ansprechen, sagt Kohlrausch.
Was rechte Parteien gut mobilisieren könnten, sei die Angst vor Transformation, vor Wandel, sei es im Bereich der Digitalisierung oder effektiver Maßnahmen zum Klimaschutz, erklärt Kohlrausch. Während etablierte Parteien auf diese Ängste keine einfachen Antworten hätten, negierten jene wie die AfD und BSW einfach, dass solcherlei Transformationen nötig sind.
Eine exklusive Analyse des Tagesspiegel Innovation Lab zeigte kurz vor der Wahl, dass vorherrschende Emotionen bei Wählenden der beiden Parteien Sorge und Wut sind. Viele fühlen sich von der Politik ungerecht behandelt.
Bei der zunächst diffus anmutenden Unzufriedenheit der Menschen handele es sich meist um finanzielle Sorgen und Angst vor sozialem Abstieg, sagt Kohlrausch. „Diese Sorgen lassen sich nicht von jetzt auf gleich und nicht mit einer einzigen Maßnahme beseitigen.“ Eine Möglichkeit, dieser Sorge und Wut zu begegnen, sieht sie in einer „Sozialpolitik, die die Menschen schützt“. Und zwar nicht allein durch Verteilung von Bürgergeld.
Vielleicht sei das BSW etwas glaubwürdiger in dieser Hinsicht, weil es ein Ableger der Linken sei, vermutet Kohlrausch. Ihr sozialwissenschaftliches Institut hat sich in Untersuchungen – insbesondere auch im Vorfeld der Europawahl – viel mit den Wählergruppen beschäftigt. „In unseren Auswertungen haben wir gesehen, dass das BSW Leute als Wähler:innen mobilisieren konnte, die sich erst vor Kurzem für die AfD entschieden hatten.“
Immerhin: „Der Rechtsruck ist kein europaweites Phänomen. Noch sind wir die Mehrheit“, beschwichtigt Bettina Kohlrausch am Telefon. Doch ein Problem seien – auch in Deutschland – die konservativen Parteien, die den Rechten den Weg ebnen, statt sich ganz klar abzugrenzen. Die viel beschworene Brandmauer sei „die einzige Chance, die wir jetzt noch haben“.