Seit über 70 Tagen ist Deutschland im Lockdown. Lockerungen, heißt es, sind ab März denkbar. Gleichzeitig verbreiten sich die Mutanten rasant. Sie könnten den Abwärtstrend wieder umkehren, wenn nicht angemessen reagiert wird. Das zeigen die europäischen Nachbarn.
Was aber wirkt denn nun gegen steigenden Fallzahlen? Nach einem Jahr Corona müsste doch eigentlich klarer sein, was hilft und was nicht. Die Maßnahmen der Nachbarländer unterscheiden sich teils drastisch von den in Deutschland geltenden Regelungen. Welche wirken? Sind manch harte Maßnahmen gar unnütz, weil weichere alleine schon ausreichen? Wir haben alle Maßnahmen seit Beginn der Pandemie mithilfe von Daten der Oxford University analysiert und in einem Analysetool zusammengefasst. So können Sie sich selbst ein Bild machen.
Nach einem Jahr Coronapandemie gilt in Europa ein Flickenteppich an Maßnahmen. Wir haben verschiedenste Maßnahmen und Kombinationen von Beschränkungen aus den Daten der Oxford University durchgerechnet. Das ernüchternde Ergebnis dabei ist: Die eine wirksame Maßnahme, die gibt es nicht. Aber eine Kombination sehr strenger Maßnahmen wirkt vielversprechend. Erlässt ein Land zu einem Zeitpunkt sehr strenge Regeln in Kombination – werden etwa Schulen gleichzeitig mit Arbeitsstätten geschlossen, Homeoffice angeordnet und Beschränkungen bei persönlichen Treffen sowie teilweise Ausgangssperren verhängt – gehen die Neuinfektionen meist deutlich nach unten. Selbst dann, wenn die Maßnahmen nicht zeitgleich mit den Nachbarländern stattfinden und die Grenzen nicht geschlossen sind.
In Deutschland gelten aktuell sehr viele Beschränkungen auf höchster Stufe. Der Eindämmungsindex, den die Oxford University berechnet, ist seit Dezember sehr hoch, wie die folgende Grafik zeigt.
Welche unterschiedlich starken Maßnahmen aber in den anderen europäischen Ländern gelten, zeigt sich, wenn man diese vergleicht. Dann steht Deutschland mit seiner niedrigen Inzidenz vergleichsweise gut da.
Die Daten stammen von der Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Mit dem Coronavirus Government Response Tracker sammeln Wissenschaftler systematisch Informationen über die politischen Maßnahmen, die Regierungen als Reaktion auf die Pandemie ergreifen. Die einzelnen Maßnahmen fassen sie zu einem Index zusammen und weisen so jeder Regierung eine Zahl von 0 bis 100 zu. 100 bedeutet, in allen Kategorien gelten die härtesten Maßnahmen. 0 bedeutet, gar keine Maßnahmen gegen Corona wurden ergriffen. Darin enthalten sind Beschränkungen wie die Schließung von Schulen, Geschäften und/oder Arbeitsplätzen, Reiseverbote sowie Ausgangssperren. Zwei enthaltene Indikatoren machen zudem Angaben zur Teststrategie des jeweiligen Landes sowie Regelungen zu Maskenpflicht.
Einschränkend muss betont werden: Der Index gibt nur Auskunft über die erlassenen Regeln, nicht darüber, wie gut oder schlecht diese eingehalten werden. „Die Wirkung der Maßnahmen hängt von zahlreichen Faktoren ab, die das Verhalten der Menschen beeinflussen, etwa Vertrauen in die Politik, Haushaltsstrukturen oder wie Städte gestaltet sind”, sagt Thomas Hale. Er leitet das Projekt um den Government Response Tracker und ist Professor für Global Public Policy an der Oxford University. So könnten bestimmte Maßnahmen in einem Land gut funktionieren, in einem anderen gar nicht. „Selbst innerhalb Europas ist es sehr schwer, das zu verallgemeinern”, sagt der Wissenschaftler.
Hinzu kommt, dass Menschen die Maßnahmen mit ihrem Verhalten oft vorwegnehmen, bevor sie beschlossen sind. Außerdem sind die Fallzahlen in allen Ländern wahrscheinlich mit unterschiedlichen Dunkelziffern verknüpft, weil unterschiedlich getestet wird. Dennoch sind die Werte innerhalb jedes Landes im Zeitverlauf wahrscheinlich relativ stringent. Daher müssten ganz klar wirkungsvolle Maßnahmen länderübergreifend auffallen
Schaut man auf die Maßnahmen in der ersten Welle, so zeigt sich vor allem deutlich: Einheitliche länderübergreifende Regeln sind wahrscheinlich effektiver als einzelne nationale Regelungen. Als vor knapp einem Jahr die ersten Corona-Beschränkungen in Kraft traten, griffen die europäischen Staaten zeitgleich zu weitgehend ähnlichen Maßnahmen. Und auch weltweit traten innerhalb weniger Wochen Maßnahmen in Kraft. Die Fallzahlen sanken innerhalb weniger Wochen – und zwar relativ synchron. Aktuell ist die Situation völlig anders – jedes Land versucht es mit verschiedenen Regelungen. So sind die Maßnahmen mal mehr, mal weniger stark als in der ersten Welle.
Auch wenn es nicht ganz einfach ist, Maßnahmen gegeneinander zu bewerten: Eine Studie zu Maßnahmen in der ersten Welle, die in der Fachzeitschrift BMJ Open im Juni erschien, kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass vor allem strenge Maßnahmen in Kombination helfen. Diese Analysen zeigen: Treten Kontaktbeschränkungen wie Schulschließungen oder Ausgangsbeschränkungen in Kraft, so reduziert sich die Inzidenz im Schnitt um 13 Prozent. Und: Treten diese Beschränkungen früh und gleichzeitig in Kombination mit weiteren Kontaktbeschränkungen in Kraft, so ist der Effekt stärker. Auch Experte Hale ist sicher: „Schnellere, stärkere Restriktionen stoppen die Ausbreitung des Virus effektiver als langsamere, schwächere Maßnahmen”, sagt er. Da sei man sich in der Wissenschaft weitgehend einig.
Corona-Beschränkungen haben nicht nur einen Einfluss auf die Zahl der Infizierten, sondern auch auf die Zahl der Todesopfer. In Ländern mit harten Maßnahmen sind im Verlauf der Pandemie durchschnittlich weniger Menschen an Covid-19 verstorben als in denen mit schwachen Beschränkungen. Es gibt aber Ausnahmen. So gibt es auch Länder, die ohne lange harte Maßnahmen Todesfälle verhindern konnten, etwa Neuseeland.
Ob der Fall Neuseeland mit der geographischen Lage als Insel zu tun hat, damit, dass Neuseeland so früh und hart aber kurz reagiert hat, ob die Neuseeländer sich besser an Regeln halten oder es einen anderen Grund für die wenigen Toten gab, können diese Daten nicht belegen. Auch die Zahl der Toten in Estland ist im Verhältnis zu den schwachen Maßnahmen recht gering. Aber hier spielt auch ein Grundproblem an Statistik an sich mit herein: Ein Stück weit bleibt der Zufall, Ausreißer gibt es grundsätzlich. Schließlich handelt es sich hier um menschliche Gesellschaften. Die sind nahezu nie in einheitliche mathematische Muster pressbar. Die Alarmglocke: Welche Rolle spielen die Mutanten?
In den letzten Wochen ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzugekommen. Seit Dezember verbreiten sich Mutanten in Europa, allen voran B.1.1.7, die um ein Vielfaches ansteckender sind als die vorherigen Varianten. In Ländern, wo sie weit verbreitet sind, ist die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen rasant gestiegen.
Es sieht dort teilweise so aus, als hätten sich die Fallzahlen völlig von den politischen Maßnahmen entkoppelt. Portugal ist ein besonderes drastisches Beispiel. Dabei hat das Land nie so weitreichende Lockerungen beschlossen wie beispielsweise Deutschland im Sommer. Es galten durchgängig recht harte Maßnahmen. Gefallen sind die Zahlen schließlich erst wieder, als strengste Maßnahmen beschlossen wurden, inklusive Grenzschließungen. Auch Deutschland versucht sich nun gegen die Mutante abzuschotten. Da der Anteil der Mutanten hierzulande laut Sequenzierungen und Hochrechnungen des RKI aber bei 24 Prozent liegt, ist es fragwürdig, ob diese Reaktionen noch den ausschlaggebenden Unterschied machen können.
Die einzige Hoffnung neben Freiheitseinschränkungen? Wissen. So könnten gerade jetzt auch andere Aspekte der Pandemiebekämpfung, vor allem flächendeckende Testungen und Genomanalysen noch wichtiger werden. Für Thomas Hale reicht diese Frage über die aktuelle Pandemie hinaus. Es sei eine der Schlüsselfragen, wie Regierungen die Zeit des Lockdowns nutzen, um die Gesellschaft insgesamt widerstandsfähiger zu machen:
Hat man die Zeit genutzt, um die Test- und Rückverfolgungssysteme zu verbessern, die medizinische Notfallversorgung zu optimieren und die Impfungen zu beschleunigen? „Wenn ja, dann können wir Fortschritte bei der Kontrolle des Virus machen”, sagt Hale. „Wenn nicht, werden wir Passagiere auf einer Achterbahn bleiben, die das Virus kontrolliert.”