Manche prophezeiten sie, manche verschlossen die Augen vor ihr, jetzt ist sie da: Die dritte Welle rollt über Europa hinweg. Noch deutlicher als zuvor zeigt diese Phase der Pandemie, wie eng Deutschland mit seinen Nachbarländern verzahnt ist. Nicht nur die gemeinsame EU-Impfstrategie offenbart das, sondern etwa auch die Mutanten des Virus, die über die Grenzen in Deutschland landeten. In den Grenzregionen zu stark betroffenen Nachbarn steigen die Zahlen.
Aber bei aller Nähe gibt es zwischen den europäischen Ländern markante Unterschiede: Sei es beim Impfen, bei den Fallzahlen oder bei den Maßnahmen, die helfen sollen, das Virus einzudämmen. Wie läuft es in den Nachbarländern? Von welchen kann Deutschland, das im europäischen Vergleich bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen ist, durch die Welle lernen, die gerade mit voller Wucht anrollt? Ein Blick in die Nachbarländer.
Impfen gilt als Königsweg aus der Pandemie – und im europäischen Vergleich hat Großbritannien sie alle abgehängt. Hier wurden bisher die meisten Impfdosen pro 100.000 Einwohner verabreicht, nämlich rund 50.000. rund 45 Prozent der Menschen haben laut Daten des britischen Gesundheitsministeriums mindestens eine Dosis erhalten. Innerhalb der EU sind es deutlich weniger, nämlich 13,4 Prozent, bei 15.690 verabreichten Dosen je 100.000. Auffällig ist, dass alle EU-Staaten mit einer sehr ähnlichen Geschwindigkeit impfen, Deutschland liegt mit 11,34 Prozent etwas unter dem europäischen Durchschnitt und im Vergleich zu allen europäischen Ländern im Mittelfeld, wie die Tabelle zeigt.
Dabei galt Großbritannien lange als ein Land, das in der Pandemie versagt: Die Fallzahlen waren hoch, Premierminister Boris Johnson reagierte oft spät und die Zahl der Todesfälle pro Einwohner war bis Ende Februar europaweit mit am höchsten: 180 von 100.000 Einwohnern waren zu diesem Zeitpunkt am oder mit dem Virus gestorben, in Deutschland waren es bis dahin etwa 80. Insgesamt starben auf der Insel bisher rund 30 Prozent mehr Menschen pro Einwohner als im europäischen Durchschnitt.
Mitte März erreichte die Sterblichkeit nach Angaben des britischen Statistikamts wieder Normalniveau. Das heißt, dass ohne Pandemie ähnlich viele Menschen starben wie in dem Zeitraum ab Mitte März 2021.Premierminister Boris Johnson lässt sich für seinen „fantastischen Erfolg” feiern, der zwischenzeitlich schon abgeschriebenen Gesundheitsminister Matt Hancock, teilte vor wenigen Tagen mit, er sehe „ein Ende” der Coronakrise. Die Inzidenz liegt derzeit bei rund 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner pro Woche.
Warum geht das Impfen so schnell?Erstens hat das Vereinigte Königreich die Beschaffung anders organisiert als die EU , hat sich früh viel Impfstoff gesichert – und dafür mehr bezahlt. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass es in Großbritannien derzeit weniger Lieferengpässe gibt. Das Land exportiert auch weniger Impfstoff als die EU. Und begann drei Wochen früher zu impfen.
Zweitens organisiert das Land Impfungen anders. Hausärzte und einige Apotheken impfen längst mit. Und die Briten planen optimistisch, aber auch riskant: Die nötige zweite Dosis wird nicht – wie etwa in Deutschland - zurückgehalten. Was da ist, wird verimpft, man vertraut, dass auch zum zweiten Termin Impfstoff parat sein wird. Vollständig geimpft sind deshalb erst 5,41 Prozent der Menschen. Das sind etwas weniger als in Deutschland (4,89 Prozent).
Das Infektionsgeschehen in Tschechien ist besorgniserregend - immer noch. Obwohl die Neuinfektionen seit der ersten Woche im März sinken, liegt die Sieben-Tages-Inzidenz aktuell bei 453. In der tschechischen Republik starben seit Beginn der Pandemie so viele wie in keinem anderen Land auf der Welt, nämlich 247 pro 100.000 Einwohner, erst vergangenen Samstag verlängerte der tschechische Premierminister Andrej Babis den Ausnahmezustand. Zum Vergleich: In Deutschland sind seit März 2020 insgesamt 93 Menschen pro 100.000 Einwohner an oder mit dem Coronavirus gestorben.
Warum sind die Fallzahlen in Tschechien so hoch? Eine Umfrage der tschechischen Meinungsforschungsagentur „Stem” von Mitte März könnte Hinweise geben: Nur 63 Prozent der über 1000 Befragten waren ihrer eigenen Aussage nach bereit, auf Besuche bei älteren Verwandten zu verzichten. Außerdem gaben nur 17 Prozent an, im Homeoffice zu arbeiten. In Deutschland sind es laut einer Befragung des ifo-Instituts derzeit 32 Prozent. Und Industriebetriebe dürfen in Tschechien ihren Betrieb aufrechterhalten. Während des ersten Lockdowns war das nicht der Fall. Dies kritisierte etwa Robin Sin, Impfkoordinator, Mediziner und Dozent an der Universität in Pilsen. Er sagte der Nachrichtenagentur Reuters, aus seiner Sicht sollten Industriebetriebe, die nicht systemrelevant seien, schließen, um die Fallzahlen zu senken. Außerdem sei die Mobilität zwischen Landesteilen viel zu hoch.
Im Gegensatz zur ersten Welle reagierte die tschechische Politik zuletzt zögerlich auf die Ausbreitung des Coronavirus. Dass Staaten von anderen oder ihrer eigenen Erfahrung lernen, sei keine Garantie, beobachtet Thomas Hale, Professor für Public Policy an der Oxford-Universität. Tschechien habe zwar neben anderen osteuropäischen Staaten wie Ungarn und Bulgarien in der ersten Welle schneller reagiert als manche westeuropäische Länder. „Aber dann haben einige osteuropäische Länder einige Monate später genau das Gegenteil getan. Nämlich im Herbst, als die Zahlen in die Höhe schnellten, zu lange gewartet, um Maßnahmen zu beschließen”, schreibt Hale in einem Gastbeitrag für mehrere Zeitungen. „Und das mit all den allzu vorhersehbaren Konsequenzen.”
Auch westlich der deutschen Grenze gibt es Anlass zur Sorge: In Frankreich steigen und steigen die Fallzahlen - und das, so scheint es, trotz strikter lokaler Auflagen. Donnerstag verkündete Frankreichs Präsident Macron den dritten einmonatigen Lockdown. Andernsfalls würde man „die Kontrolle verlieren”, sagte er. Aktuell liegt die Inzidenz bei 407 - und ist damit mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland (144). Seit einigen Tagen gilt Frankreich, neben Tschechien und der Slowakei, als Hochinzidenzgebiet. Bundesbürger müssen bei Einreise einen negativen Coronatest vorweisen. Merkel nannte die Entscheidung am Donnerstag „faktisch notwendig”.
Der nördliche Teil der deutsch-französischen Grenze ist schon seit März von strengeren Einreiseregeln betroffen, denn die Region Moselle gilt als Virusvariantengebiet. Das heißt, dass dort eine Mutation des Coronavirus besonders präsent ist - in diesem Fall die südafrikanische Variante B1351, die Mitte März nach Angaben des französischen Gesundheitsministeriums rund 54 Prozent der Neuinfektionen ausmachte. In Deutschland macht B1351 rund ein Prozent der Infektionen aus, die Ausbreitung sei in den vergangenen Wochen konstant, mittlerweile sogar „etwas rückläufig”, heißt es im RKI-Bericht.
Im Saarland aber, das an die Region Moselle grenzt, machte sie im selben Zeitraum rund zehn Prozent aus. Das zeigt, wie sehr Deutschland auch hinsichtlich der Pandemie mit seinen Nachbarn verzahnt ist. „In Europa sind wir immer direkt voneinander betroffen”, sagt der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Universität Halle. „Im schlimmsten Fall müssen wir Grenzen schließen”, sagt er angesichts der vielen Grenzgänger. „In Thüringen und Sachsen etwa ist das Infektionsgeschehen stark von Tschechien beeinflusst”, das gelte für Grenzregionen generell.
Was die Entwicklung in Frankreich womöglich außerdem zeigt: Wie schnell die Infektionen wieder in die Höhe schnellen können, sobald man früh wieder lockert. Anfang November verfügte Frankreich angesichts explodierender Zahlen den zweiten harten Lockdown, der einen Monat dauerte. Die Inzidenz ging auf 112 zurück, seit Ende des harten Lockdowns steigen sie aber wieder - erst langsam, dann schneller, mittlerweile rasant. Das zeigt die folgende Grafik, in der Perioden mit strengen Maßnahmen dunkel gekennzeichnet sind. Sie können selbst erkunden, welche Regeln wann galten.
Thomas Hale von der Oxford-Universität, der mit seinem Team seit einem Jahr Maßnahmen vergleicht und daraus den in der Grafik visualisierten „Eindämmungsindex” berechnet, nennt dieses Szenario, eine „regelrechte Infektionszahlen-Achterbahnfahrt”. Die Folgen: „politische Schleudertrauma und tragische Todesopfer”. Obwohl in Paris und anderen Regionen die Intensivbetten knapp werden, zögerte Macron zunächst, den dritten harten Lockdown zu verhängen. Er setzte zunächst auf lokale Maßnahmen. „Es gibt keine No-Covid-Situation, das gilt für jedes Land in Europa”, sagte Macron am Donnerstag auf einem EU-Gipfel. „Wir sind keine Insel.”
Österreich hat in der Pandemie schon einiges ausprobiert: Grenzschließungen, Öffnungen mit Massentests, und nun den Osterlockdown. Was Merkel aufgrund rechtlicher Bedenken und auf Druck der Wirtschaftsverbände hin nicht durchsetzt, wird in Teilen des Nachbarlandes Praxis sein. Vom 1. bis zum 6. April gelten in Wien und und den angrenzenden Bundesländern Niederösterreich und dem Burgenland Ausgangssperren, auch tagsüber. Private Treffen sind nur mit einer Kontaktperson erlaubt. Museen und Geschäfte, die nicht der Grundversorgung dienen, müssen schließen.
Der österreichische Gesundheitsminister Rudolf Anschober bezeichnete die Osterruhe als „Wellenbrecher-Lockdown”. Denn in Österreich steigen seit Mitte Februar die Infektionszahlen wieder: Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 255. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 144.
Besorgniserregend ist besonders der Blick in die Intensivstationen: Rund ein Viertel der Intensivbetten des Landes ist belegt. Angesichts dieser Zahlen geht es also zurück in den Lockdown. Dabei hatte Kanzler Sebastian Kurz erst am 8. Februar, also vor knapp zwei Monaten, die Maßnahmen gelockert - weil die Bevölkerung pandemiemüde sei und sich nicht mehr so gut an die Regeln halte, sagte er der „Welt am Sonntag”. Die Lockerungen - zum Beispiel die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts oder Öffnung des Einzelhandels - knüpfte Österreich an ein weitreichendes Testregime. Rein durften nur die, die ein negatives Testergebnis vorlegen konnten. „Nasenbohrer-Tests” nennt man in Österreich die Antigen-Selbsttests, die im vorderen Nasenbereich durchgeführt werden und die an Schulen zum Einsatz kamen.
Doch viel testen hilft nicht immer viel - das zeigen die weiter steigenden Infektionszahlen im Nachbarland nun. Schnelltests liefern nur kurzfristig Informationen darüber, dass eine Person nicht ansteckend sei, erklärt Epidemiologe Mikolajczyk. Wird der Test innerhalb der ersten vier Tage nach einer Ansteckung gemacht, dann sei das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit noch negativ, sagt Mikolajczyk. So könnte es passieren, dass Infektionen unerkannt bleiben. Allein viel zu testen ist also auch nicht der Königsweg aus der Pandemie, unerkannte Infektionen könnten die Ausbreitung des Virus anfachen.
Portugal lockerte Mitte März strikte Corona-Maßnahmen, die zwei Monate zuvor, am 15. Januar, in Kraft getreten waren. Und hatte damit geschafft, woran andere europäische Länder weiterhin scheitern: die Infektionszahlen in relativ kurzer Zeit drastisch zu senken.
Das gelang den Portugiesen mithilfe rigoroser Einschränkungen: Schulen und Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, Arbeitnehmer:innen angehalten, im Homeoffice zu arbeiten. Gastronomie und Einzelhandel blieben zu, Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts waren verboten. Generell war es nur aus triftigen Gründen - etwa zum Einkaufen und für Arztbesuche - erlaubt, das Haus zu verlassen. Auch die Grenze zu Spanien wurde bis auf bestimmte Ausnahmeregelungen geschlossen.
Zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns, am 28. Januar, erreichte die 7-Tage-Inzidenz in Portugal ihren bisherigen Höchststand: 878 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Zwischenzeitlich war im Januar die Inzidenz hier weltweit am höchsten. Auch die Intensivstationen gerieten an ihre Grenzen: Am 30. Januar waren nur noch 7 der 850 Intensivbetten, die für Covid-19-Patienten freigehalten werden, leer - und Portugal verfügt EU-weit ohnehin über die wenigsten Intensivplätze pro Kopf.
Doch nach diesen dramatischen Zeiten, etwa zwei Wochen nach Inkrafttreten der strengen Maßnahmen, sanken die Infektionszahlen rasant. Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 28. Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk schätzt, dass die Maßnahmen, die Portugal getroffen hat, bei der Eindämmung des Virus, und auch der neuen Varianten, helfen. „Portugal zeigt, dass man mit harten Maßnahmen sehr wohl auch die britische Variante in den Griff bekommen kann”, sagte Mikolajczyk dem Tagesspiegel.
Zurückzuführen waren die hohen Zahlen mit großer Wahrscheinlichkeit darauf, dass sich die ansteckendere Virusvariante B.1.1.7 aus Großbritannien stark ausgebreitet hatte: Dem Robert-Koch-Institut zufolge galt Portugal zwischen Ende Januar und Mitte März als sogenanntes „Virusvariantengebiet”. Als am 15. Januar das Land in einen erneuten harten Lockdown ging, lag laut einer wissenschaftlichen Studie, die in der Virologie-Fachzeitschrift „Eurosurveillance” veröffentlicht wurde, bei hochgerechnet 12,3 Prozent der sequenzierten Coronavirusproben in Portugal die Variante aus Großbritannien vor. Eine Woche später lag der Anteil bereits bei 22,7 Prozent und Mitte März bei rund 70 Prozent. Tracking-Daten legen nahe, dass die Mutante durch die hohe Zahl von Reisenden aus Großbritannien nach Portugal getragen wurde. Auch in Deutschland ist B.1.1.7 mittlerweile die dominierende Variante. Der RKI-Testzahlerfassung zufolge ist der Anteil der Mutante unter allen Proben auf 64 Prozent gestiegen.
Wer hart runterfährt, wird - so scheint es - belohnt: Seit dem 15. März lockern die Portugiesen, Grund- und Vorschulen sowie Kindergärten öffneten demnach wieder. Auch Friseure und Buchläden dürfen ihren Betrieb wieder aufnehmen. Anfang April sollen kulturelle Einrichtungen wie Museen öffnen dürfen, die Außengastronomie ab Mai.
Was können wir also von unseren europäischen Nachbarn lernen? Der portugiesische Weg könnte auch für Deutschland ein sinnvoller sein. Das hieße, mithilfe eines strengen Lockdowns auch die Ausbreitung der ansteckenderen britischen Variante zu unterbinden - zumindest zeitweise.
Epidemiologe Rafael Mikolajczyk hält es für notwendig, jetzt zu den Einschränkungen aus dem Januar und Februar zurückzukehren - und diese sogar zu verschärfen. Unter einer Verschärfung versteht er die Einschränkung privater Kontakte in Innenräumen, die Schließung des Einzelhandels und der Gastronomie, Reisebeschränkungen sowie Schul- und Betriebsschließungen. „Je länger wir jetzt damit warten, desto härter und länger werden die Maßnahmen nötig sein.”
Und dennoch bleibt die Lage kompliziert: „Schnelltests verschaffen uns Zeit”, sagt Mikolajczyk. Mit ihrer Hilfe könnten Infektionsketten frühzeitig erkannt und unterbrochen werden. Das wirklich Entscheidende aber sei: „schnell impfen”. Und was das angeht, liegt Deutschland im Mittelfeld und hinkt Deutschland damit einigen europäischen Partnern hinterher, wie die Daten zeigen.
Was die Situation noch verschärft: Mit der teilweisen Aussetzung des Impfstoffs von Astrazeneca am Dienstag hat die Impfstrategie in Deutschland einen Rückschlag erlitten. Und da die Impfstoffe schlechter vor den neuen Virusvarianten - den bekannten sowie den kommenden - schützen, müssten wir uns „zunehmend darauf einstellen, dass wir vor einer globalen Herausforderung stehen, die uns auch in Deutschland viele Jahre beschäftigen wird”, folgert der Epidemiologe.